Musikstück der Woche vom 05.01.2015

Hintertürchen

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AUTOR/IN
Katharina Höhne

Sergej Prokofjew: Romeo und Julia. 10 Stücke für Klavier, op. 75

"Es gibt keine traurigere Geschichte auf der Welt als ein Trauerspiel Shakespeares mit Ballettmusik von Prokofjew", soll die russische Prima Ballerina Galina Ulanowa nach der Premiere von "Romeo und Julia" gesagt haben. Was heute zu den bekanntesten und schönsten Ballettmusiken der Welt gehört, war für viele damals ein ungeliebtes und politisch unkorrektes Etwas.

Sergej Prokofjew selbst verstand das nicht. Er fand seine Musik äußerst gelungen. Trotzdem arbeitete er sie um und veröffentlichte noch vor der Uraufführung des Balletts zehn Stücke für Klavier solo daraus. Die amerikanische Pianistin Claire Huangci hat das Kammermusikwerk am 19.10.2012 im Frankfurter Hof gespielt.

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Nagendes Heimweh

"Romeo und Julia" ist das erste Bühnenwerk, das Sergej Prokofjew nach seiner Rückkehr in Russland schrieb. Im Zuge der Oktoberrevolution, 1917, bei der Lenin das Land gewaltsam an sich riss, war er wie viele andere Kreative emigriert. Da in den USA keiner auf sein Talent ansprang, ließ sich Prokofjew kurz darauf in Paris nieder. Die Pariser waren ein dankbares Publikum, da sie sich dank Strawinsky und seiner Kollaboration mit der Ballets Russes für alles begeisterten, was russisch war. 

Auch im Rest von Europa wurde Prokofjew mit der Zeit immer beliebter, sowohl als Pianist als auch als Dirigent. Er reiste von Stadt zu Stadt und kehrte dabei ein paar Mal in die Sowjetunion zurück. Die kurzen Aufenthalte in der alten Heimat taten ihm allerdings alles andere als gut. Immer stärker machte sich Heimweh in ihm bemerkbar. Anfangs versuchte es Prokofjew noch zu ignorieren, doch nach immer häufigeren Sehnsuchtsattacken und einer nicht enden wollenden Pendelei zwischen Paris und Moskau, zog es ihn Anfang der 1930er Jahre ganz nach Russland zurück.

Politisch ausgebremst

Zuhause avancierte Prokofjew zum Star. Jeder wollte mit ihm zusammenarbeiten. Die Premiere seines neuen Balletts "Romeo und Julia" sollte am Bolschoi-Theater in Moskau stattfinden. Doch was vielversprechend begann, lief bald ins Leere.

Genau wie sein Landsmann Dmitri Schostakowitsch, wurde Prokofjew Opfer der politischen Hetzjagd gegenüber Freigeistern. In der Prawda, der damaligen russischen Tageszeitung, klagte man ihn als politischen Verräter an. Parallel dazu oder infolgedessen beklagten sich zunehmend Tänzer und Musiker. Sein Ballett sei viel zu ungewöhnlich und alles andere als tanzbar. Man sprach von "seltsamer Orchestrierung", "häufigen Rhythmuswechseln" und "unzähligen Unannehmlichkeiten". Schlussendlich wurde die Arbeit am Stück auf Eis gelegt und die geplante Uraufführung auf unbestimmte Zeit aufgeschoben.

Geschickte Hintertür

Natürlich ging der außen- und innerpolitische Protest an Prokofjew nicht spurlos vorüber. Trotzdem ließ er sich nicht entmutigen, sondern arbeitete bewusst weiter. In dieser Zeit entstand u.a. sein wohl bekanntestes Werk "Peter und der Wolf", das wider Erwarten in Russland ein voller Erfolg wurde. Mit einem Mal war Prokofjew nicht länger musikalischer Feind sondern vollwertiger Sowjetkünstler.

Prokofjew nutzte seinen neu gewonnenen Status, um "Romeo und Julia" wieder ins Gespräch zu bringen. Allerdings tat er das mit größter Vorsicht. Zunächst koppelte er zwei Orchestersuiten aus seiner Bühnenmusik heraus, dann eine Reihe von zehn Stücken für Klavier solo, die er als op. 75 veröffentlichte. Das Publikum nahm sie so gut an, dass "Romeo und Julia" zwei Jahre später als geplant, 1938, doch noch auf die Bühne kam, zwar nicht in der Sowjetunion dafür aber im tschechischen Brünn.

Obwohl die zehn kleinen Kammermusikwerke der Originalmusik sehr nah stehen, ist jedes für sich besonders. In russischer Tradition eröffnen sie theatralische Räume, in den die Shakespears Protagonisten handeln, leben und lieben. 

Claire Huangci (Klavier)

Claire Huangci möchte "Musik machen, an die man sich erinnert, nicht weil ich so schnelle Finger hatte, sondern weil sie so schön war – so schön, dass sie zu Tränen rührte." Die junge Amerikanerin (geb. 1990), deren Wurzel in China liegen, vereint technische Brillanz mit musikalischer Ausdrucksstärke, spielerische Virtuosität mit künstlerischer Sensibilität. Mit neun Jahren startete Claire Huangci ihre internationale Karriere mit Stipendien, Konzerten, Preisen und einer Privatsoiree bei Bill Clinton. Wichtige Impulse erhielt sie dabei von ihren Lehrern Eleanor Sokoloff und Gary Graffman am Curtis Institute of Music in Philadelphia, bevor sie 2007 zu Arie Vardi an die Musikhochschule Hannover wechselte.

Einer ihrer großen Vorbilder ist Frédéric Chopin, dem sie ihren großen Durchbruch verdankt: Im Oktober 2009 erhielt sie den 1. Preis beim Internationalen Chopin-Wettbewerb in Darmstadt, im Februar 2010 den 1. Preis und alle Sonderpreise beim Chopin-Wettbewerb in Miami. Heute spielt Huangci ein breites Repertoire und arbeitet weltweit mit renommierten Orchestern wie dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart, Sinfonieorchester Berlin, China Philharmonic Orchestra, Indianapolis Symphony oder der Istanbul State Symphony zusammen. Außerdem ist sie regelmäßig bei Festivals wie dem Kissinger Sommer, Menuhin Festival Gstaad, Schleswig-Holstein Musik Festival oder den Schwetzinger Festspielen zu Gast. Im August 2013 erschien ihre Debüt-CD, mit Einspielungen von Solowerken von Tschaikowsky und Prokofjew.

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Katharina Höhne