Musikstück der Woche vom 08.12.2014

Retrospektive

Stand
AUTOR/IN
Kerstin Unseld

Peter Tschaikowsky: Variationen über ein Rokoko-Thema für Violoncello und Orchester A-Dur, op. 33

Wenn Peter Tschaikowsky das Leben zu schwer wurde und ihn seine Ängste und Sorgen die Luft abschnürten, flüchtete er. Er katapultierte sich in eine Gedankenwelt, die weit weg von seinem alltäglichen Leben war. Als er seine Rokoko-Variationen op. 33 schrieb, war er ebenfalls auf der Flucht. Im Kopf ging es zurück ins 18. Jahrhundert, wo die Welt weiß gepudert war, man vor hochtoupierten Perücken kaum etwas sehen konnte und die Lust am Tanzen groß war.

Cellist Christian Poltéra hat Tschaikowskys musikalischen Rückblick unter Dima Slobodeniouk am 12.02.2012 in der Stuttgarter Liederhalle gespielt.

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Die schwere Lebenswelt

Die 1870er Jahre waren für den russischen Komponisten Peter Tschaikowsky nicht die leichtesten. Seine Oper "Schmied Vakula" floppte, immer öfter hagelte es für seine Musik schlechte Kritiken. Und dann heiratete er auch noch Antonia Miljukova, um seine Homosexualität vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Die Ehe, von der er sich nichts sehnlicher als innere Ruhe erhoffte, hielt drei Monate. Zu groß waren die inneren Zweifel. In dieser Zeit hing Tschaikowskys Seelenhaushalt mächtig schief. Immer düsterer wurden die Werke, die er schrieb, immer zerrissener ihr Ton.

Nur manchmal, wenn sich Tschaikowsky der Realität abwandte und sich in seine Phantasie flüchtete, klang seine Musik heller, freundlich und unbekümmert, wie die Rokoko-Variationen, die er zwischen den Jahren 1876 und 1877 aufs Papier brachte. Sie wurden zum klingenden Ausdruck seiner Sehnsucht nach einer anderen Welt. Einer Welt, in der alles in Ordnung schien, unbeschwert und leicht. Für Tschaikowsky war diese Welt das 18. Jahrhundert, als Wolfgang Amadeus Mozart, dieses "sonnige Genie", wie er gern sagte, die Musik mit seinen Ideen auf den Kopf stellte.

Die leichte Gegenwelt

Zeitlebens verehrte der russische Komponist den Wiener Musiker, deshalb griff er für seine Variationen auch auf die Ästhetik des Wiener Klassikers zurück und formte sie nach seinen eigenen Ideen und Klangidealen um. Unterstützt wurde er dabei von seinem guten Freund und Cellisten Wilhelm Fitzenhagen, dem er die Variationen später widmete. Er erlaubte ihm sogar die Stücke nach Belieben umzuarbeiten, was dieser ungezügelt tat. Gemeinsam versuchten sie das Cello, mit all seinen spiel- und klangtechnischen Möglichkeiten in den Mittelpunkt zu stellen. Deswegen gehört das Stück auch bis heute zu den beeindruckendsten Werken dieser Gattung.

Am 30. November 1877 brachte Fitzenhagen die Variationen unter der Leitung von Nikolai Rubinstein erstmals zur Uraufführung. Danach nahm er sie mit auf seinen Konzertreisen und sorgte dafür, dass sie in ganz Europa bekannt wurden.

Christian Poltéra

Christian Poltéra wurde 1977 in Zürich geboren. Nach Unterricht bei Nancy Chumachenco und Boris Pergamenschikow studierte er bei Heinrich Schiff in Salzburg und Wien. Heute arbeitet er als Solist mit führenden Orchestern zusammen wie z.B. dem Gewandhausorchester Leipzig, dem Los Angeles Philharmonic, dem BBC Symphony Orchestra oder dem Tonhalle-Orchester Zürich, unter der Leitung von u.a. Riccardo Chailly und Sir John Eliot Gardiner.

Daneben widmet sich der Cellist intensiv der Kammermusik. Zusammen mit Frank Peter Zimmermann und Antoine Tamestit bildet er ein festes Streichtrio, daneben spielt er regelmäßig mit Künstlern wie Mitsuko Uchida oder Christian Tetzlaff.

Christian Poltéra ist nicht nur ein beliebter Gast bei renommierten Festivals weltweit, sondern wurde auch für sein Spiel für Bühne und Tonträger mehrfach ausgezeichnet. 2004 wurde er z.B. mit dem Borletti-Buitoni Award ausgezeichnet und als BBC New Generation Artist ausgewählt.

Christian Poltéra spielt das Cello "Mara" von Antonio Stradivari aus dem Jahr 1711.

Das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR

Das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR spielt jährlich rund 80 Konzerte im Sendegebiet des Südwestrundfunks, in den nationalen und internationalen Musikzentren und bei bedeutenden Musikfestspielen. Ergänzt wird seine Konzerttätigkeit durch zahlreiche Studioproduktionen für Rundfunk und Fernsehen.

Das Orchester pflegt das klassisch-romantische Repertoire in exemplarischen Interpretationen und setzt sich mit Nachdruck für zeitgenössische Musik und selten aufgeführte Komponisten und Werke ein. Bis heute hat es mehr als 500 Werke uraufgeführt. Dazu setzt es sich verstärkt für die Förderung junger Künstler ein und gestaltet durch ein breitgefächertes Angebot die Programme der Musikvermittlung SWR Young CLASSIX mit.

Dima Slobodeniouk

Mit "Kraft und Intelligenz" verfeinert Dima Slobodenoiuk jeden Orchesterklang, schreibt die internationale Presse über den gebürtigen russischen Dirigenten. Aufgewachsen in Moskau, studierte er zunächst Violine am heimatlichen Konservatorium, bevor er nach Finnland auswanderte, um seine musikalische Ausbildung am Konservatorium Mittelfinnland sowie der Sibelius Akademie fortzusetzen. Parallel dazu nahm das Dirigierstudium auf, u.a. bei Esa-Pekka Salonen, das er 2001 mit Auszeichnung abschloss. Seitdem ist Dima Slobodenouik ein gefragter Dirigent bei namhaften Orchestern wie dem Luzerner Sinfonieorchester, RAI Turin, Helsinki Philharmonic Orchestra sowie dem Netherlands Radio Orchestra. Seit 2013/14 ist er Chefdirigent des Orquesta Sinfónica de Galicia.

Dima Slobodenouik arbeitet regelmäßig mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR zusammen und vereint in seinen Programmen auf besondere Weise die Musiktradition seiner zwei Heimatländer Russland und Finnland. Dazu setzt er sich für die Aufführung zeitgenössischer Werke ein, u.a. von Jörg Widmann, Einojuhani Rautavaara, Jukka Tiensuu, Brett Dean und John Corigliano.

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Kerstin Unseld