Musikstück der Woche mit François-Xavier Roth

Ludwig van Beethoven: Leonoren-Ouvertüre Nr. 3 op. 72a

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AUTOR/IN
Doris Blaich

Beethovens einzige Oper hat gleich vier verschiedene Ouvertüren. Nr. 3 schaffte den Sprung von der Bühne in den Konzertsaal. In unserem Live-Mitschnitt aus dem Freiburger Konzerthaus dirigiert François-Xavier Roth das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg.

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"Dieses mein geistiges Kind hat mir vor allen anderen die größten Geburtsschmerzen, aber auch den größten Ärger gemacht", bekannte Beethoven über den "Fidelio", seine einzige Oper. Neun Jahre lang hat er sich immer wieder den Kopf darüber zerbrochen. Im Januar 1804 schrieb er in einem Brief: "Ich habe mir nun geschwind ein altes französisches Buch bearbeiten laßen, und fange jetzt daran an zu arbeiten". Das alte französische Buch war ein Opernlibretto von Jean Nicolas Bouilly, das in einer historischen Begebenheit wurzelt; es handelt davon, wie Ungerechtigkeit und Schreckensherrschaft durch den Mut und die Selbstlosigkeit Einzelner in Freiheit verwandelt werden kann. Heldin des Dramas ist Leonore, die sich in Männerkleidung unter dem Decknamen Fidelio als Kerkerknecht einschleust und schließlich ihren Gatten Florestan aus der Gefangenschaft rettet. Die Uraufführung der Oper – von Anfang an schwankte der Titel zwischen "Fidelio" und "Leonore" – fand im Herbst 1805 im Theater an der Wien statt und war ein grandioser Misserfolg. Beethoven arbeitete die Partitur im Jahr darauf gründlich um, alles schien vielversprechend, doch diesmal überwarf er sich mit dem Intendanten des Theaters und es gab nur ein paar wenige Aufführungen.

Eine Oper, vier Ouvertüren

Richtig zufrieden war Beethoven ohnehin nicht. Und so griff er noch einmal zum Rotstift, strich vieles und komponierte für die dritte Version der Oper – die wir heute "Fidelio" nennen – große Teile neu. Endlich waren Komponist und Publikum zufrieden. Die zahlreichen Überarbeitungen sind der Grund dafür, warum es für "Fidelio" bzw. "Leonore" vier verschiedene Ouvertüren gibt. Denn für jede Neuversion der Oper schrieb Beethoven eine eigene Ouvertüre. Die vier Ouvertüren stehen zueinander wie vier-eiige Vierlinge: ihre genetische Substanz ist zwar die selbe, sie ist aber jeweils unterschiedlich ausgeprägt; und alle vier Ouvertüren stehen in unterschiedlicher Beziehung zur Oper.

Fidelio und Leonore in pocket version

Die heute gespielte 'dritte' ist chronologisch eigentlich die zweite, sie stammt aus dem Jahr 1806 und leitete die Zweitfassung der "Leonore" ein. Sie ist diejenige von den vieren, die am frühesten als selbstständiges Werk im Konzertsaal heimisch wurde. Die Musik skizziert die Handlung der Oper, leuchtet ihre Stimmungen und Schwankungen musikalisch aus. Der harmonisch gefährlich schwankende Beginn atmet den modrigen Geruch des Kerkers. Etwa in der Mitte der Ouvertüre platziert Beethoven ein Trompetensignal; in der Oper verkündet es die Ankunft des Ministers, der der Knechtschaft ein Ende bereitet. Ein Quartett schildert die unterschiedlichen Reaktionen derer, die das Trompetensignal hören: Erleichterung bei Leonore und Fidelio, Schrecken bei dem Tyrannen Pizarro, der weiß, dass das Ende seiner Herrschaft naht, und Schwanken zwischen privatem Mitgefühl und dienstlicher Loyalität beim Kerkermeister Rocco.

Nobel und großsinnig

Vier Menschen, die völlig unterschiedliche Emotionen durchleben, und die diese Emotionen gleichzeitig preisgeben – das funktioniert (abgesehen vielleicht vom Comic) so nur in der Kunstform der Oper! Beethoven hat diese Schlüsselszene gleichsam mit der Schere aus der Opernpartitur geschnitten und sie in die Ouvertüre eingeklebt. Daraufhin erklingt das Trompeten-Signal erneut. In Thomas Manns Roman "Doktor Faustus" kommentiert der Komponist Adrian Leverkühn die Wirkung dieser Passage: "Die energischste, wechselvollste, spannendste Folge von Geschehnissen, Bewegungsvorgängen, nur in der Zeit, aus Zeitzergliederung, Zeit-Erfüllung, Zeit-Organisation allein bestehend, ins konkret Handlungsmäßige einmal gerückt durch das wiederholte Trompetensignal von außen. Höchst nobel und großsinnig ist das alles […] meisterhaft, daß es nicht zu sagen ist."

SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg

Das 1946 gegründete SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg identifiziert sich bis heute mit den Idealen seiner "Gründerväter", die der festen Überzeugung waren, dass die engagierte Förderung der neuen Musik ebenso wichtiger Bestandteil des Rundfunk-Kulturauftrags ist wie der Umgang mit der großen Tradition.
In diesem Sinne haben die Chefdirigenten von Hans Rosbaud über Ernest Bour bis zu Michael Gielen gearbeitet und ein Orchester kultiviert, das für seine schnelle Auffassungsgabe beim Entziffern neuer, "unspielbarer" Partituren ebenso gerühmt wird wie für exemplarische Aufführungen und Einspielungen des traditionellen Repertoires eines großen Sinfonieorchesters. An die 400 Kompositionen hat das Orchester bisher uraufgeführt und damit Musikgeschichte geschrieben; es gastiert regelmäßig in den (Musik)-Hauptstädten zwischen Wien und Amsterdam, Berlin und Rom, Salzburg und Luzern. Von 1999 bis 2011 hat Chefdirigent Sylvain Cambreling das Orchester entscheidend geprägt. Seit September 2011 steht François-Xavier Roth an der Spitze.

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Doris Blaich