Musikstück der Woche vom 17.9.2012

Tanz durch ein barockes Lustschloss

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AUTOR/IN
Doris Blaich

Johann Sebastian Bach: Partita für Klavier Nr. 4 D-Dur BWV 828

"Clavir-Übung": mit diesem trockenen Titel würde man heute niemanden mehr hinterm Ofen vorlocken. Bach hat ihn für sein (ganz und gar nicht trockenes) vierbändiges Tasten-Universum gewählt. Und allen, die damit in Berührung kommen, wird sofort klar: Hinter dieser Übung steckt der Meister! Stephen Kovacevich spielt die Partita D-Dur aus dem ersten Teil der "Clavir-Übung" – ein Mitschnitt aus der Konzertreihe "Internationale Pianisten in Mainz" vom 1.4.2011.

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Heutige Marketing-Strategen würden den Titel „Clavir-Übung“ wohl sofort verwerfen: viel zu bescheiden wirkt er, und außerdem ein bisschen trocken. Aber Bachs Vertriebstechnik löst auch im 21. Jahrhundert noch Erstaunen aus: Er machte erst einmal einen Marktcheck, bevor er die vier umfangreichen Bände mit Musik für verschiedene Tasteninstrumente im Selbstverlag veröffentlichte. Bach ließ sich genug Zeit, um das Verhältnis von Angebot und Nachfrage sorgfältig zu überprüfen. Seit 1726 gab er die sechs Partiten (Suiten) Stück für Stück als Einzelhefte heraus. Dafür schaffte er sich ein exzellentes Vertriebsnetzwerk: als ‚Vertreter’ gewann er einflussreiche Musikerkollegen in ganz Deutschland: in Dresden, Halle, Lüneburg, Braunschweig, Nürnberg und Augsburg. Als er sah, dass er nicht auf den Unkosten sitzen bleiben würde, entschloss sich Bach, alle sechs Partiten erneut drucken zu lassen und sie als Opus 1 der „Clavir-Übung“ herauszugeben.


Fortsetzungsroman der Claviermusik
Im Lauf der Jahre folgten dann noch drei weitere große Bände, die die „Clavir-Übung“ abrunden und sie in den Rang eines systematischen und vollständigen Überblicks über die Kunst der Claviermusik erheben. Mit dem Begriff Clavier sind in dieser Zeit sämtliche Tasteninstrumente gemeint: vom Clavichord übers Spinett, Cembalo und Flügel bis hin zur Kirchenorgel. Für diese unterschiedlichen Instrumente stellte Bach seine Sammlung von Musik in den wichtigsten Gattungen, Formen, Stilarten und Kompositionstechniken zusammen – ein wahrer musikalischer Kosmos der Klangfarben und Kompositionstechniken.


Zur Partita Nr. 4 D-Dur
D-Dur ist zu Bachs Zeit die Trompeten-Tonart, denn sie liegt für die Trompeten (damals noch ohne Ventile, die das Spiel in den unterschiedlichen Tonarten später erheblich vereinfachten) besonders günstig. Wenn es also um Herrscherlob, Pracht und Pomp geht, dann liegt man mit D-Dur ideal. Bach überträgt den strahlenden Trompeten-Charakter dieser Tonart auf die Klaviertasten. Mit einer französischen Ouvertüre eröffnet er die Partita; sie ist majestätisch und elegant zugleich mit ihren rollenden Läufen, den scharfen Punktierungen und den vielen Ornamenten, die sich doch immer perfekt in die Linie der Melodie einfügen. Der zweite Teil der Ouvertüre – ein dreistimmiges Fugato im 9/8-Takt – wirkt mit seiner aufgelockerter Faktur wie ein Lichtfenster nach Draußen. In einer ‚normalen‘ Opernouvertüre würde jetzt der langsame Rahmenteil noch einmal aufgegriffen, Bach formuliert die Ausnahme von der Regel.
Die sechs anderen Sätze folgen dem Muster der französischen Suite. Sie alle gehen auf Tänze zurück, die man am französischen Königshof tanzte – oder besser: zelebrierte. Man tanzt also mit dieser Suite Stück für Stück durch ein barockes musikalisches Lustschloss.

Stephen Kovacevich (Klavier)
Stephen Kovacevich wurde 1940 als Sohn einer kroatischen Einwandererfamilie in Los Angeles geboren und debütierte mit 11 Jahren als Pianist. 18-jährig begann er sein Studium bei der legendären Myra Hess in London. In der Londoner Wigmore Hall gab er 1961 sein erstes großes Klavierrecital; u.a. spielte er an diesem Abend auch Beethovens Diabelli-Variationen. Der riesige Erfolg dieses Konzert legte den Grundstein für seine weitere Karriere.
Heute kann Kovacevich, der auch erfolgreich als Dirigent arbeitet, auf eine lange Laufbahn als Konzertpianist zurückblicken. Der Musikkritiker Joachim Kaiser lobte in den 1970er-Jahren in seinem Buch "Große Pianisten in unserer Zeit" den Ernst und die Artikulationsfähigkeit ebenso wie die stille Ausdruckskraft und sein Legato-Spiel.
Unter seinem Geburtsnamen Stephen Bishop spielte er Anfang der 1960er Jahre mit Jacqueline du Pré; später konzertierte er vierhändig mit Martha Argerich - Begegnungen, die künstlerisch wie privat sein Leben bereicherten.

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Doris Blaich