Musikstück der Woche vom 18.4.2016

Leonhard Lechner: Das Hohelied Salomonis für vierstimmigen gemischten Chor

Stand
AUTOR/IN
Martina Seeber
Doris Blaich

Sex sells - aber darf das auch für die Bibel gelten? Der Barockkomponist Leonhard Lechner hat darüber nicht lange diskutiert, sondern die sinnlichsten Texte der Bibel ohne Umschweife in Musik gesetzt: Sein "Hohelied Salomonis" ist unser Musikstück der Woche, der Livemitschnitt mit dem SWR Vokalensemble und Marcus Creed stammt aus einem Konzert vom März 2014 aus der Gaisburger Kirche Stuttgart.

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Das Hohelied - ein Mysterium

Kaum ein Bibeltext hat so widersprüchliche Auslegungen erfahren wie das - an erotischen Bildern und Vergleichen reiche - Hohelied Salomonis. Bis heute ist nicht geklärt, warum diese frühen Zeugnisse weltlicher Liebeslyrik Eingang in die Heilige Schrift der Juden und Christen fanden. Auch die Urheberschaft Salomons wird allgemein bezweifelt. Stattdessen nimmt man an, dass die literarischen Wurzeln von Schir ha-Schirim - der hebräische Titel bedeutet "Lied der Lieder" - in Ägypten liegen und bis weit in das 1. Jahrtausend vor Christus zurückreichen. Ihre endgültige Gestalt müssen die Liebeslieder jedoch erst im Hellenismus erhalten haben. Dafür sprechen Verweise auf jüngere Sitten und Gebräuche, wie die erst später übliche Bekränzung des Bräutigams und auch die stilistische Nähe zur griechischen Dichtung.

Fromm oder fleischlich?

Jüdische wie christliche Theologen stellte die Auslegung der lyrischen Liebesdialoge jedenfalls vor große Herausforderungen. Die zwischen weiblicher und männlicher Perspektive wechselnden Beschreibungen handeln so unmissverständlich vom Kuss "seines Mundes", lieblichen Brüsten, duftenden Salben und der Hand, die den Körper der Geliebten "herzt", dass die Umdeutung in die geistige Liebe zwischen Gott und seinem auserwählten Volk schon einiger Anstrengung bedarf.

Oder beides gleichzeitig?

Französische Buchmalerei um 1145: Initiale "O" des Hohenliedes Salomonis aus der Bibel des Manerius (Foto: picture-alliance / dpa, picture-alliance / dpa - akg-images / Jean-Claude Varga)
Französische Buchmalerei um 1145: die Initiale "O" des Hohenliedes Salomonis aus der so genannten Bibel des Manerius

Allerdings hat gerade die Gottesliebe immer auch von der sinnlichen Aufladung, von der Dynamik des fleischlichen Begehrens und der poetischen Spannung zwischen den Liebenden profitiert. So hat auch der Marienkult der vorchristlichen Liebeslyrik viel zu verdanken. Dass der keuschen Gottesmutter die Rose als das Symbol der weltlichen Liebe zugesprochen wurde und auch das Motiv des verlockenden, aber verschlossenen Gartens auf sie überging, sind nur zwei Beispiele für eine erfolgreiche Umdeutung.

Lechners Liebeslieder

Verleugnet wurde die erotische Sinnlichkeit der alttestamentarischen Liebeslyrik jedoch nie. Auch Leonhard Lechner, einer der wichtigsten Vertreter der noch jungen protestantischen Kirchenmusik, beginnt seine Vertonung im Zeichen des weltlichen Genusses. Gleich die ersten Takte von "Das erst und ander Kapitel des Hoheliedes Salomonis" schwelgen in weiten melodischen Bögen im Liebesglück. Die erst nach seinem Tod 1606 veröffentlichte Komposition für vierstimmigen Chor verbindet das Vermächtnis seines Lehrers Orlando di Lasso mit frühbarocker Sinneslust, effektvollen Wechseln zwischen homophonen und polyphonen Abschnitten und plastischer Textausdeutung. Die Vertonung verrät, wie wichtig Leonhard Lechner für die Entwicklung der deutschen Vokalmusik war. Der zum Protestantismus konvertierte Südtiroler, der seine Laufbahn in Nürnberg begann und über Stationen in Hechingen und Tübingen nach Stuttgart gelangte, war zu seiner Zeit nicht nur der fruchtbarste, sondern auch einer der beliebtesten Autoren deutschsprachiger Gesänge.

Die sechs "Teile" seiner Hohelied-Vertonungen überraschen immer wieder mit engen Stimmführungen, die der Musik eine gewisse Unruhe, aber auch rhythmische Raffinesse verleihen. Unmittelbar aus dem Text entwickelt der Zeitgenosse Claudio Monteverdis eine Fülle bildhafter Wendungen wie die rastlosen Wechselnoten, die im zweiten Teil "Ich bin schwarz" die vergebliche Suche nach dem Geliebten vorwegnehmen. In "Ich gleiche dich" zeichnen anmutig geschwungene Melodiebögen unmittelbar nach dem imitatorischen Beginn die elegante Linie des weiblichen Halses nach. Diese musikalische Bildhaftigkeit prägt alle sechs Strophen und natürlich auch den Höhepunkt der erotischen Beschreibungen, wo Leonhard Lechner den Textfluss für Augenblicke anhält, um die "herzenden" Bewegungen umso vielsagender anzudeuten.

Das erst und ander Kapitel des Hohenliedes Salomonis

Er küsse mich mit dem Kuss seines Mundes
Denn deine Brüste sind lieblicher denn Wein,
dass man dein gute Salbe rieche.
Dein Nam ist ein ausgeschütte Salben;
Darum lieben dich die Mägd.
Zeuch mich dir nach,
so laufen wir.
Der König führet mich in seine Kammer.
Wir freuen uns und sind fröhlich über dir;
Wir gedenken an deine Brüste mehr denn an den Wein.
Die Frommen lieben dich.

Der ander Teil

Ich bin schwarz,
aber gar lieblich.
Ihr Töchter Jerusalem,
wie die Hütten Kidar,
wie die Teppiche Salomon,
sehet mich nit an,
dass ich so schwarz bin.
Denn die Sonne hat mich verbrannt.
Meiner Mutter Kinder zürnen mit mir.
Man hat mich zur Hüterin der Weinberg gesetzt;
Aber meinen Weinberg, den ich hatte,
hab ich nit behütet.
Sage du mir an, den meine Seele liebet,
wo du weidest, wo du ruhest um Mittag,
dass ich nit hin und hergehn müsse bei den Herden deiner Gsellen.
Kennest du mich nit, du schönste unter den Weibern?
So geh hinaus auf die Fußstapfen der Schaf
und weide deine Böcke bei den Hirtenhäusern.

Der dritte Teil

Ich gleiche dich, meine Freundin,
meinem reisigen Zeuge an dem Wagen Pharao.
Deine Backen stehn lieblich in den Spangen und dein Hals in den Ketten.
Wir wollen dir güldene Spangen machen mit silbern Böcklein
Da der König sich herwandte, gab mein Narden sein Geruch.
Mein Freund ist mir ein Büschel Myrrhen,
das zwischen meinen Brüsten hanget.
Mein Freund ist mir ein Trauben Cophar,
in den Weingärten zu Engeddi.

Der vierte Teil

Siehe, mein Freundin,
du bist schön, schöne bist du;
Deine Augen sind wie Taubenaugen.
Siehe mein Freund,
du bist schön und lieblich.
Unser Bette grünet,
unser Häuser Balken sind Zedern,
unser Latten sind Zypressen.

Der fünfte Teil

Ich bin ein Blumen zu Saron und eine Rose im Tal.
Wie eine Rose unter den Dornen,
so ist meine Freundin unter den Töchtern.
Wie ein Apfelbaum unter den wilden Bäumen,
so ist mein Freund unter den Söhnen.
Ich sitz unter dem Schatten, des ich begehre
Und seine Frucht ist meiner Kehlen Süße.
Er führet mich in den Weinkeller
Und die Liebe ist sein Panier über mir.
Er erquicket mich mit Blumen
und labet mich mit Äpfeln,
denn ich bin krank vor Liebe.
Seine Linke liegt unter meinem Haupt,
und sein Rechte herzet mich.

Der sechste Teil

Fahet uns die Füchse, die kleinen Füchslein,
die den Weinberg verderben;
denn unsere Weinberg haben Augen gewonnen.
Mein Freund ist mein und ich bin sein,
der unter den Rosen weidet,
bis der Tag kühl wird und der Schatten weichet.
Kehre um, werde ein Rehe, mein Freund,
oder wie ein Hirsch auf den Scheidebergen.

SWR Vokalensemble Stuttgart

Seit vielen Jahren zählt der Rundfunkchor des SWR zu den internationalen Spitzenensembles unter den Profichören und hat im Lauf seiner 70-jährigen Geschichte mehr Uraufführungen gesungen als jeder andere Chor, viele davon unter Leitung von Rupert Huber, der von 1990 bis 2000 Chefdirigent des Ensembles war. Neben der Neuen Musik widmet sich das SWR Vokalensemble vor allem den anspruchsvollen Chorwerken älterer Epochen – insbesondere der Romantik und der klassischen Moderne. Seit 2003 ist Marcus Creed künstlerischer Leiter des SWR Vokalensembles Stuttgart. Unter seiner Leitung wurde das Ensemble für seine kammermusikalische Interpretationskultur und seine stilsicheren Interpretationen vielfach ausgezeichnet, unter anderem dreimal mit dem Echo Klassik.

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Martina Seeber
Doris Blaich