Musikstück der Woche vom 3.2.2014

Musikalischer Visionär oder Spinner?

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AUTOR/IN
Doris Blaich

Alexander Skrjabin: Fantasie für Klavier h-Moll op. 28

Russische Klavierseele in russischen Pianistenhänden: In unserem Musikstück der Woche spielt die Russin Evgenia Rubinova eine Klavierfantasie von Alexander Skrjabin. Der Live-Mitschnitt stammt aus der SWR-Reihe Internationale Pianisten in Mainz, ein Konzert vom 25. Januar 2008.

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Alexander Skrjabin – in allen Attributen, die ihn beschreiben, muss ein ‚hoch‘ stecken: hochbegabt, hochvirtuos, hochsensibel. 1872 in Moskau als Sohn eines Diplomaten und einer Pianistin geboren, wurde er schon bald zum Halbwaisen und wuchs überbehütet bei seinen Großeltern auf. Er war besessen vom Klavier, ignorierte beim exzessiven Üben die Schmerzgrenzen seines Körpers und ruinierte sich die rechte Hand – mit eiserner Disziplin und einem unerschütterlichen Optimismus konnte er die Lähmung wieder einigermaßen kurieren und weiterhin konzertieren, wenn auch nicht mit voller Kraft. Seitdem ist die Partie der linken Hand in seinen Klavierwerken extrem anspruchsvoll und von allen Pianisten gefürchtet.

Der Prometheus der Musik
„Ich will den Menschen sagen, dass sie stark und mächtig sind“, so hat Skrjabin sein künstlerisches Anliegen formuliert. Und er hat es gewagt, dafür die musikalischen Gesetze aus den Angeln zu heben: Ähnlich wie Arnold Schönberg fand er eigene Wege, die traditionelle Harmonik zu überwinden und entwickelte ein ganz neues Tonsystem, das nicht auf den Spannungsverhältnissen der Dur-Moll-Tonalität und dem Quintenzirkel beruht, sondern in dem Quarten aufeinander geschichtet sind. Berühmt ist der „Prometheus-Akkord“ aus seiner sinfonischen Dichtung „Prometheus“ von 1910, da baut er fünf Quarten (teils auch übermäßige und verminderte) zu einem schillernden Klanggebilde übereinander. Im „Prometheus“ versuchte Skrjabin, verschiedene Sinnesreize miteinander zu koppeln und damit seine eigene Wahrnehmung für andere erlebbar zu machen: Er selbst war Synästhetiker, sah beim Hören Farben und hörte beim Farbensehen Töne. Deshalb kam im „Prometheus“ neben einer riesigen Orchesterbesetzung auch ein Farbenklavier zum Einsatz, das verschiedene bunte Lichter in den Konzertsaal projiziert.

Mysterium

Einen Schritt weiter ging er im nächsten Werk, dem „Mysterium“: Hier plante er, zusätzlich zu Klang und Farbe auch tänzerische Bewegungen und Düfte einzubeziehen und so den Hörer an einem sinnlichen Gesamtkunstwerk teilhaben zu lassen. Mehrere Tage sollte die Aufführung des „Mysteriums“ dauern, und Skrjabin plante, eigens dafür eine tempelartige Aufführungshalle in Indien zu bauen. Am Ende dieses wagemutigen Stückes steht die geistige Wiedergeburt, die kosmische Erneuerung des Menschen. Die Zeitgenossen waren über diese Ideen geteilter Meinung: Die einen betrachteten Skrjabin als genialen Neuerer und Visionär, die anderen schlicht als Spinner. Skrjabin konnte die Partitur seines „Mysteriums“ nicht mehr fertigstellen. Er starb am 27. April 1915 mit 43 Jahren an einer Blutvergiftung.

Klavierfantasie h-Moll
In den Jahren 1900 / 1901 komponierte Skrjabin seine Fantasie h-Moll op. 28. Auf engem Raum begegnen sich hier starke musikalische Kontraste und gewagte harmonische Wendungen. Der Pianist braucht viel Kraft für dieses Stück: für die vollgriffigen Akkorde in beiden Händen, für die machtvollen Intervallsprünge und rauschenden Arpeggien. Das Hauptthema entspringt der Mittellage des Klaviers und wird in einer Gegenbewegung beinahe auseinandergerissen. Nach vier Takten sind bereits die Extremlagen des Instruments erreicht. Im Lauf des Stückes nutzt Skrjabin den gesamten Klangraum und schichtet die Stimmen mehrstöckig übereinander, als hätte der Pianist eine riesige Orgel zur Verfügung. Skrjabin selbst soll diese Fantasie übrigens niemals öffentlich aufgeführt haben, weil er sich den technischen Anforderungen nicht gewachsen fühlte.

Die Pianistin Evgenia Rubinova (Foto: Pressestelle, Website Evgenia Rubinova -)
Evgenia Rubinova

Evgenia Rubinova
Dieses Silber ist eigentlich Gold wert: Die russische Pianistin Evgenia Rubinova erhielt beim renommierten Klavierwettbewerb in Leeds 2003 eine Silbermedaille – wie zuvor beispielsweise Mitsuko Uchida und Lars Vogt. Sie studierte in der Meisterklasse von Professor Lev Natochenny in Frankfurt am Main. Ihre Debüt-CD, die bei EMI erschien, erhielt international beste Kritiken.
Wie bei vielen jungen Künstlern, bewirkten auch bei Evgenia Rubinova ein paar Einspringer entscheidende Karriereschübe: so bot sie für Yundi Li und Gabriela Montero einen würdigen Ersatz. Mittlerweile hat ihr Name aber genug Magnetkraft, um volle Konzertsäle zu garantieren. Sie konzertiert mit den großen Orchestern Europas (das London Philharmonic ist dabei, das Kölner Gürzenich-Orchester, das Wiener Kammerorchester und das RSO Stuttgart des SWR); und die musikalische Landkarte ihrer Soloabende ist ein weitläufiges Netz mit prominenten Punkten: die Wigmore Hall in London, die Tonhalle Zürich, New York, Washington, Chicago und Paris. Im kammermusikalischen Bereich konzentriert sie sich auf die Zusammenarbeit mit dem Oboisten Albrecht Mayer sowie dem Cellisten Gabriel Schwabe.

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Doris Blaich