Musikstück der Woche vom 11.03.2013

Eine klingende Enzyklopädie des Schmerzes

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AUTOR/IN
Doris Blaich

Franz Liszt: Variationen über den Basso continuo aus der Kantate "Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen" von Johann Sebastian Bach

Liszt hat in diesen Klaviervariationen den Schmerz über den Verlust seiner Tochter in Klang verwandelt – und damit gleichzeitig eine große Hommage an Johann Sebastian Bach geschrieben. Unser Konzertmitschnitt stammt vom 15. April 2012 aus dem Asamsaal des Ettlinger Schlosses. Herbert Schuch spielt.

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Bachs Geist in Listzts Händen: Für seine "Variationen über Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen" hat Franz Liszt auf den Eingangschor einer Kantate von Johann Sebastian Bach zurückgegriffen. Bachs Kantate stammt aus seiner Weimarer Zeit, er hat sie 1714 für den dritten Sonntag nach Ostern komponiert. "Eure Traurigkeit soll in Freude verkehrt werden", heißt die Überschrift zum Evangelientext, der an diesem Sonntag im Gottesdienst gelesen wird. Die Kantate vollzieht musikalisch diesen Wandel des Schmerzes in Freude nach; das tut auch Liszt in seinen Variationen – wobei hier der Affekt der Trauer stets im Vordergrund bleibt.

Klingende Schmerzenssymbole
Bach verwendet im Eingangschor der Kantate eine chromatische Bassmelodie als Fundament – in der Barockzeit ein klingendes Symbol für Trauer und Schmerz –, die als Ostinato ständig wiederholt wird. Darüber baut er einen vierstimmigen Chorsatz; reich an musikalischen Seufzerfiguren und aparten Dissonanzen. Viele Jahre später hat Bach diesen Chorsatz in seiner h-Moll-Messe wiederverwendet. Aus dem deutschsprachigen Text "Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen, Angst und Not / Sind der Christen Tränenbrot" wurde das lateinische "Crucifixus etiam pro nobis", in dem es um die Kreuzigung Christi geht.
Wie bei Bach, läuft auch bei Liszt der ostinate Bass die ganze Zeit durch. Darüber entwickelt Liszt eine Fülle von Variationen. Er lässt darin alle Klangfarben des Klaviers zum Vorschein kommen und komponiert eine klingende Enzyklopädie des Schmerzes: tiefe Trauer, Verzweiflung und Sehnsucht, Fassungslosigkeit und Wut – und immer wieder gibt es auch Hoffnungsschimmer. Kurz vor Schluss überrascht Liszt den Hörer mit dem Schlusschoral aus Bachs Kantate: "Was Gott tut, das ist wohlgetan". Der Text ist in den Klaviernoten mit abgedruckt, sodass der Pianist innerlich mitsingen kann. Liszt hat das Werk 1859 geschrieben, in tiefer Erschütterung über den Tod seiner Tochter Blandine.

Herbert Schuch
Herbert Schuch wurde 1979 in Temeschburg (Rumänien) geboren. Nach erstem Klavierunterricht in seiner Heimatstadt übersiedelte die Familie 1988 nach Deutschland, wo er seither lebt. Seine musikalischen Studien setzte er bei Kurt Hantsch und dann bei Prof. Karl-Heinz Kämmerling am Salzburger Mozarteum fort. In jüngster Zeit erfährt Herbert Schuch in besonderer Weise Prägung in der Begegnung und Arbeit mit Alfred Brendel. Internationales Aufsehen erregte er, als er innerhalb eines Jahres drei bedeutende Wettbewerbe in Folge gewann: den Casagrande-Wettbewerb, den London International Piano Competition und den Internationalen Beethovenwettbewerb Wien.
Seither arbeitet er mit einigen der führenden Orchestern zusammen: mit dem London Philharmonic Orchestra, den London Mozart Players, der Camerata Salzburg, dem RSO Wien, der Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz, dem Orchestre National de Lyon und den Orchestern der ARD. Er ist regelmäßig Gast bei Festspielen wie dem Rheingau Musik Festival, dem Kissinger Sommer, dem Musikfest Stuttgart oder dem Klavier-Festival Ruhr. Sein Interesse für Kammermusik – geweckt durch eigenes Geigenspiel in der Kinderzeit – teilt er mit Musikern wie Adrian Brendel, Mirijam Contzen, Veronika Eberle, Julia Fischer, Marie-Elisabeth Hecker, Sebastian Klinger, Alina Pogostkina, Martin Spangenberg.
Bei Oehms Classics erschienen bisher fünf Aufnahmen mit Herbert Schuch, in der sich der Pianist seinen Schwerpunkten widmet: Schumann, Ravel, Schubert, aber auch Holliger und Lachenmann tauchen in seinen Konzept-Alben ("Nachtstücke", "Sehnsuchtswalzer") immer wieder auf. Im November 2012 erschien seine CD mit Beethovens Klavierkonzert Nr. 3 und dem Klavierkonzert von Viktor Ullmann (mit dem WDR Sinfonieorchester unter Leitung von Olari Elts).
Herbert Schuch engagiert sich neben seiner Konzerttätigkeit in der von Lars Vogt gegründeten Organisation "Rhapsody in School", die sich für die Vermittlung von Klassik in Schulen einsetzt.

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Doris Blaich