Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 1 unter der Leitung von Riccardo Chailly

Sehr sehens- und hörenswerte Aufnahme

Stand
AUTOR/IN
Jan Ritterstaedt
KÜNSTLER/IN
Gewandhausorchester Leipzig

DVD-Tipp vom 15.03.2018

"Wie ein Naturlaut" hat Gustav Mahler über den ersten Satz seiner ersten Sinfonie geschrieben. Für Riccardo Chailly ist dabei das "wie" entscheidend. Denn in seiner Interpretation geht es nicht um musikalische Klangmalereien, sondern um die Ideen dahinter.

Das Irrationale hörbar machen

Rund 25 Minuten dauert der kleine Einführungsfilm mit Riccardo Chailly, in dem der Maestro auf Italienisch und mit Untertiteln in mehreren Sprachen, seine Auffassung von Mahlers Erster Sinfonie zusammen mit entsprechenden Musikbeispielen erläutert. Um das Irrationale hörbar zu machen, bedient er sich dabei aber ganz rationaler, wissenschaftlicher Methoden. So hat er etwa die Metronomangaben aus einer Partitur des niederländischen Dirigenten Willem Mengelberg ganz genau in seine übertragen. Schließlich gehen sie auf Mahler selbst zurück. Und so verwundert es auch nicht, dass seine Aufnahme dieser viel gespielten Musik auch so manche Überraschung bietet.

Ideenkunst

Mitten in den Trauermarsch fährt im dritten Satz die Musik einer böhmischen Kapelle hinein. Dieser Moment klingt bei Riccardo Chailly und dem Gewandhausorchester Leipzig zunächst einmal erstaunlich unspektakulär. Denn: Das Tempo geht durch! Auch wenn es ihm persönlich an dieser Stelle immer in den Fingern juckt, beruft sich Chailly im Interview hier auf die klaren Angaben der Partitur: keine Tempoänderung. Aber noch etwas anderes fällt auf: Die Holzbläser spielen diese Stelle zwar sehr lebendig und inspiriert, aber nicht bewusst angeschliffen oder leicht unsauber - auch wenn das hier idiomatisch gesehen denkbar wäre. Für Riccardo Chailly ist diese Sinfonie eben reine Ideenkunst und kein klingendes Abbild der Wirklichkeit.

Gereifter Sprengmeister

Mit der Souveränität eines gereiften Sprengmeisters lässt Riccardo Chailly den Beginn des letzten Satzes von Mahlers erster Sinfonie explodieren - und das in relativ gemäßigtem Tempo. Dennoch gelingt es ihm und seinen Musikern, den Hörer, durch die schiere Wucht des musikalischen Gedankens, tief zu erschüttern. Chaillys Interpretation setzt also ganz auf die elemantaren Urkräfte von Mahlers Musik, bündelt sie und befreit sie von aller aufgesetzten Theatralik. Das beeindruckt - auch jenseits niederfallender Hämmer und Paukenwirbel.

Schlank und durchsichtig

Ganz zärtlich, gedämpft und wie aus einem fernen Traum, erscheint eine Passage aus dem dritten Satz. Mahler zitiert hier sein eigenes Lied "Auf der Straße steht ein Lindenbaum", aus den so genannten Gesellenliedern. Ein Moment, der in seiner schlichten Anmut berührt, auch ohne dass die Geigen zu viel Schmelz auftragen. Überhaupt klingt das Gewandhausorchester bei dieser Produktion ausgesprochen schlank und durchsichtig. Auch in punkto Präzision gibt es an dieser Aufnahme von Mahlers Erster Sinfonie nichts auszusetzen: Die Rhythmen und Gesten sitzen, der Dirigent hat kaum Mühe, seine Musiker, im durch Mahler selbst legitimierten Tempo, zu halten.

Mit dem Rückhalt der Musikgeschichte

Einerseits äußerst konzentriert, mit geschlossenen Augen in sich versunken, aber auch immer wieder mit lebhaften Bewegungen, erlebt man Riccardo Chailly auf dieser DVD am Pult des Gewandhausorchesters Leipzig: Ein Mann, der genau weiß, was er tut - und das mit dem Rückhalt der Musikgeschichte. Natürlich drängt sich an der einen oder anderen Stelle doch einmal auf, ob nicht eine kleine Portion Theatralik oder musikalische Ironie angebracht wäre. Unter dem Strich aber in jedem Fall, eine sehr sehens- und hörenswerte Aufnahme, zusammen mit den interessanten Ausführungen des Dirigenten über seine persönliche Sicht auf die Erste von Gustav Mahler.

Stand
AUTOR/IN
Jan Ritterstaedt
KÜNSTLER/IN
Gewandhausorchester Leipzig