Musikthema

Messiaens Turangalîla-Sinfonie: ein orchestraler Kraftakt

STAND
AUTOR/IN
Bernd Künzig

Olivier Messiaens „Turangalîla-Sinfonie“ ist vielleicht das bekannteste Werk des französischen Komponisten. Mittlerweile wird es gerne aufgeführt, obwohl Aufwand und Anspruch enorm sind. Allein der solistische Klavierpart ist ein kräftezehrendes Abenteuer für sich. Und mit dem gewaltigen Orchesterapparat, in den auch das eigenwillige elektronische Instrument der Ondes Martenot mit einbezogen ist, macht jede Aufführung des zehnsätzigen Werks zu einem besonderen Ereignis.

Audio herunterladen (10,8 MB | MP3)

Außerirdische Musik

Ein exotisches, Instrument aus der Frühzeit elektronischer Musik sorgt für ein Heulen, Krachen und Jubeln im All in Olivier Messiaens monumentaler „Turangalîla-Sinfonie“. Die Ondes Martenot, zu Deutsch die Martenot-Wellen, benannt nach ihrem Erfinder, verfügen über einen elektrisch verstärkten Draht, der mit einem Ring bespielt wird. Über sieben Oktaven können damit nach oben jaulende Glissandi und vibrierende Triller ausgeführt werden.

Der Aspekt des Außerirdischen ist durchaus beabsichtigt. Denn Messiaens zehnsätziges, mit einem Riesenorchester besetztes Werk feiert die Liebe als kosmisches Prinzip. Den Auftrag für das Stück erhielt der damals noch nicht sonderlich bekannte Komponist von der Koussevitzky-Foundation für das Boston Symphony Orchestra. Kein Geringerer als Leonard Bernstein dirigierte die Uraufführung im Dezember 1949. Danach tritt die Sinfonie ihren Siegeszug durch die Welt an.

Man liebt oder hasst die Sinfonie

Heute ist sie wohl das meistgespielte Werk Messiaens. Es ist ein großartiges Stück, weil die Meinungen darüber heftig auseinandergehen. Für die einen ist es purer Lärm, Pierre Boulez zum Beispiel – Messiaens damaliger Schüler in seiner Harmonieklasse – hegte eine besondere Abscheu für das Werk. Für die anderen ist es ganz großes Orchesterkino und eines der größten sinfonischen Werke des 20. Jahrhunderts überhaupt.

Die Sinfonie ist ein Liebesbekenntnis ganz besonderer Art. Denn den haarsträubend schweren Klavierpart hat Messiaen seiner späteren Frau, der Pianistin Yvonne Loriod zu Füßen gelegt.

Tristan und Isolde ohne Wagner

Er selbst betrachtete die über eine Stunde dauernde Sinfonie mit dem Vokalstück der „Cinq rechants“ und dem Liederzyklus „Harawi“ als Teil einer Trilogie, die den Mythos der Liebe von Tristan und Isolde umkreist. Und das ohne jeden Bezug zu Wagners bekanntem Musikdrama.

Nur das Chorstück befasst sich mit der mittelalterlich europäischen Liebeslegende. „Harawi“ verortet die Geschichte um Liebe und unerfüllbare Leidenschaft, die nur Erfüllung im Tod findet, mit der darin vorgetragenen Quechua-Sprache in Peru. Die Sinfonie schießt Liebe, Begehren und Vergehen in den Kosmos.

Bedeutung von Turanga und Lîla

Der Titel soll dem indischen Sanskrit entstammen. Laut Messiaen bedeutet Turanga Bewegung und Rhythmus, „Zeit die rennt, wie ein galoppierendes Pferd, die dahinfliegt, wie der Sand im Stundenglas“, während Lîla die göttliche Handlung des Kosmos meint, das Spiel von Schöpfung und Zerstörung.

Aus Fernost stammt auch die Kraft des frenetischen Rhythmus. Messiaen verwendet hier die rhythmischen Modelle der indischen Talas. Das üppig besetzte Schlagzeug erinnert an den balinesischen Gamelan, erstmals schwelgt Messiaen in der Sinfonie unverhohlen im Exotischen. Drei mit Turangalîla bezeichnete Sätze frönen der rhythmischen Kraft, sind auslaufende Zeit, feiern den Tod als Übergang in eine andere Dimension.

Messiaen als Vogelexperte

Demgegenüber stehen vier Sätze der Liebe, die geradezu süffig im Fis-Dur baden. Ein Schritt Zuviel und man landet im süßlichen Kitsch. Auch Vogelstimmen tauchen auf, allerdings in freiem Ablauf und noch nicht in der naturgetreuen Notation der späteren Werke des Ornithologen Messiaen.

Aber sie sind hier schon die fliegenden Botschafter zwischen Himmel und Erde, zwischen menschlicher Sterblichkeit und kosmischer Ewigkeit. In der Mitte führen die Sterne einen Freudentanz und -sang auf.

Die Liebe und der Tod

Gerahmt wird das Werk von einem außer Rand und Band geratenden Finale und einer Introduktion. In dieser Einleitung intonieren die Blechbläser, sekundiert von den heulenden Glissandi der Ondes Martenot, statische Akkordblöcke, die vor unseren Ohren stehen wie die Götterstatuen der Osterinseln und auf das menschlich-kosmische Drama des Werdens und Vergehens mit dem Gleichmut der göttlichen Unvergänglichkeit herabblicken.

Das ist eine andere Form der Gottheit, als diejenige des bekennenden Katholiken Messiaen, der sonst gerne der göttlichen Liebe seines Jesus huldigt. Sie ist in den Liebessätzen der „Turangalîla-Sinfonie“ dagegen eine ganz irdische: zärtlich, wollüstig und orgasmisch. Es ist das Lebensprinzip dieser vier Liebesabschnitte, die ohne das Todesprinzip der Turangalîla-Sätze nicht zu denken sind. Das eine bedingt das andere, es ist das Ying und Yang dieser Orgie.

Orchestraler Kraftakt den man sich nicht versäumen sollte

Man muss diesen sinfonischen Kraftakt nicht unbedingt lieben, entziehen kann man sich dem Klangrausch aber kaum und versäumen sollte man ihn auf gar keinen Fall. Denn ein derartig orchestraler Kraftakt ist wahrlich kein alltägliches Ereignis.

Außerdem: Auf SWRClassic.de ab 20 Uhr im Livestream am Freitag, 17.03.

Konzert verpasst? Video ab 29.3. Brad Lubman dirigiert Messiaens Turangalîla-Sinfonie

Den Videomitschnitt des Konzerts mit Brad Lubman und dem SWR Symphonieorchester finden Sie ab 29. März auf SWRClassic.de.

Über das Leben von Olivier Messiaen

SWR2 JetztMusik Olivier Messiaen zum 30. Todestag

Bertrand Chamayou (Klavier)
Thierry Lentz (Horn)
Frank-Michael Guthmann (Violoncello)
SWR Symphonieorchester
Leitung: Jonathan Stockhammer
Olivier Messiaen:
Appel interstellaire für Horn solo aus Des Canyons aux étoiles
Couleurs de la cité celeste für Klavier, 13 Bläser, Xylofon, Xylorimba, Marimba und Schlagzeug
Louange á l'éterminté de Jésus für Violoncello und Klavier aus Quatuor pour la fin du temps
Oiseaux exotiques für Klavier und kleines Orchester
(Konzert vom 30. Juni 2022, LinieZwei im E-Werk Freiburg)

SWR2 JetztMusik SWR2

Musikstunde Musik für das Ende der Zeit – Olivier Messiaen (1–4)

Der unverrückbare katholische Glaube prägte Olivier Messiaen ein Leben lang. Sein erstes Hauptwerk, das Quartett auf das Ende der Zeit, komponierte er im Zweiten Weltkrieg als Häftling in einem deutschen Internierungslager. Als er am 27. April 1992 in Paris starb, verlor die Musikwelt eine fast mittelalterliche Figur, die Musik als Synthese aus Handwerk und Spiritualität verstand.
Eine Sendung von und mit Michael Struck-Schloen

SWR2 Musikstunde SWR2

Mehr Musik von Olivier Messiaen

SWR Web Concerts Currentzis dirigiert Brahms, Messiaen und Bång

Mit Alexandre Kantorow und dem SWR Symphonieorchester. Dirigent: Teodor Currentzis. Livemitschnitt in der Stuttgarter Liederhalle vom 21.1.2022.

Messiaens "Saint François d'Assise" in Madrid

Ein besonderes Musikereignis: Am 6. Juli 2011 hatte in Madrid die einzige Oper von Olivier Messiaen, Saint François d'Assise, Premiere: Sylvain Cambreling dirigierte internationale Solisten, zwei Chöre aus Madrid und Valencia und das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg. Sechs Stunden dauerte eine Aufführung, insgesamt wurde das Werk sechsmal gespielt.

SWR Web Concerts Ingo Metzmacher dirigiert Messiaen

Das SWR Symphonieorchester spielt Olivier Messiaens "Éclairs sur l’au-delà" unter der Leitung von Ingo Metzmacher. Livemitschnitt in der Stuttgarter Liederhalle vom 25. Februar 2022.

SWR Web Concerts Currentzis dirigiert Brahms, Messiaen und Bång

Mit Alexandre Kantorow und dem SWR Symphonieorchester. Dirigent: Teodor Currentzis. Livemitschnitt in der Stuttgarter Liederhalle vom 21.1.2022.

SWR Web Concerts SWR Vokalensemble und SWR Symphonieorchester bei RheinVokal

Olivier Messiaen: O sacrum convivium • Olivier Messiaen/Clytus Gottwald: Louange a l'Eternité de Jésus, aus: Quatuor pour la fin du temps, bearbeitet für 17-stimmigen Chor a cappella • Wolfgang Amadeus Mozart: Requiem für Soli, vierstimmigen gemischten Chor und Orchester KV 626 (Fragment) • Georg Friedrich Haas: Sieben Klangräume zu den unvollendeten Fragmenten des Requiems von W. A. Mozart für gemischten Chor und Orchester | Kirsten Drope (Sopran), Sabine Czincel (Alt), Johannes Kaleschke (Tenor), Mikhail Shashkov (Bass), SWR Vokalensemble, SWR Symphonieorchester, Dirigent: Risto Joost

SWR Web Concerts SWR Vokalensemble: Sacred and profane

Hohelied und Volkslieder aus dem englischen Mittelalter treffen auf temperamentvolle moderne Sätze. Das SWR Vokalensemble singt unter der Leitung von Bart Van Reyn. Livemitschnitt in den Stuttgarter Wagenhallen vom 24.7.2021.

SWR Web Concerts Juraj Valčuha & Valeriy Sokolov

Werke von Messiaen, Prokofjew und Nielsen. Valeriy Sokolov (Violine), SWR Symphonieorchester, Dirigent: Juraj Valčuha. Livemitschnitt vom 26.11.2021 in der Stuttgarter Liederhalle.

SWR Web Concerts SWR Vokalensemble: Willkommen, Yuval Weinberg!

Bei seinem Antrittskonzert beim SWR Vokalensemble dirigiert Yuval Weinberg Werke von Johannes Brahms, Olivier Messiaen und Ørjan Matre. Livemitschnitt aus der Alten Kelter Fellbach vom 21. November 2020.

Mehr zu Messiaen

Musikgespräch Philipp Quiring über seine Olivier Messiaen-Dokumentation „Die Stimme der Vögel“

„Ich habe das Leben von Olivier Messiaen aus anderen Perspektiven entdeckt“, sagt Filmemacher Philipp Quiring. Kaum einem Komponisten kann man Klänge so direkt zuordnen wie Olivier Messiaen. Am 27. April ist sein 30. Todestag und aus diesem Anlass sendet Arte die Dokumentation „Die Stimme der Vögel“. Über erste Berührungspunkte mit Messiaen, spektakuläre Luftaufnahmen und viele neue Entdeckungen spricht Filmemacher Philipp Quiring in SWR2.

SWR2 Treffpunkt Klassik SWR2

Musikgespräch George Benjamin: Siemens-Musikpreisträger und Lieblingsschüler von Messiaen

Der diesjährige Ernst-von-Siemens Musikpreisträger ist der Komponist und Dirigent George Benjamin. Er gilt als präziser Komponist und als Lieblingsschüler von Olivier Messiaen. Über die Mixtur aus französischen und englischen Musikeinflüssen und seine Auszeichnung spricht SWR2 Opernredakteur Bernd Künzig.

SWR2 Treffpunkt Klassik SWR2

Musikgespräch SWR2 Themenabend zum 30. Todestag von Olivier Messiaen

Der französische Komponist Olivier Messiaen war Organist und engagierter Pädagoge, Musikethnologe, passionierter Ornithologe und ein tiefgläubiger Mensch. Zu seinem 30. Todestag gestaltet SWR2 einen Themenabend unter dem Motto „Gesänge von Himmel und Erde – Olivier Messiaen zum 30. Todestag“. SWR2 Musikredakteur Michael Rebhahn wird am Ostersonntag durch den Themenabend führen und gibt im Gespräch mit SWR2 Treffpunkt Klassik einen ersten Vorgeschmack.

SWR2 Treffpunkt Klassik SWR2

STAND
AUTOR/IN
Bernd Künzig