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Buch-Tipp: „Igor Levit und Florian Zinnecker: Hauskonzert“

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AUTOR/IN
Georg Waßmuth

Kaum eine Musikerpersönlichkeit hat in den letzten Jahren die Öffentlichkeit so polarisiert wie der Pianist Igor Levit. Levit erhebt seine Stimme lautstark gegen Antisemitismus und Rassismus und wird damit zur Zielscheibe rechter Anfeindungen. Im Hanser Literaturverlag ist unter dem Titel „Igor Levit und Florian Zinnecker - Hauskonzert“ eine Neuveröffentlichung erschienen, die den Pianisten nicht nur biografisch durchleuchten soll.

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„Igor Levit ist müde. Sein rechter Arm schmerzt, der linke auch, es ist vielleicht nicht der beste Tag um anzufangen. Vor zwei Tagen ist er von einer Tour mit der Kammerphilharmonie Bremen zurückgekommen. (...) Genug Repertoire für ein ganzes Jahr. Oder für drei Pianisten.“

Keine gewöhnliche Musikerbiografie

Gleich im ersten Kapitel macht Florian Zinnecker klar, dass er keine normale Musikerbiografie geschrieben hat, sondern das Porträt eines Rastlosen. Igor Levit, ein Marathonläufer auf der Konzertstrecke, omnipräsent auf allen Kanälen und nie um eine deutliche Ansage verlegen.

Doch wie nähert man sich jemandem, von dem scheinbar alle bereits alles erzählt haben, der durch Talkshows tingelt und in jedes erreichbare Mikrofon spricht? Zinnecker steckt erst einmal den Rahmen ab und rapportiert minutiös die Herkunft des Wunderpianisten.

„Im Jahr 1987 in Nizhni Nowgorod geboren, einer Stadt in der Sowjetunion, die damals noch Gorki hieß. Mit acht Jahren Übersiedelung nach Deutschland, erst nach Dortmund, dann nach Hannover. Studium an der der Hochschule für Musik, Theater und Medien. Studienabschluss mit der höchsten je vergebenen Punktzahl des Instituts.“

Der Weg nach oben: Strippenzieher, Höhen und Tiefen

Was folgt, ist die Aufzählung der Karrierestationen des Hochbegabten. Preise und Ehrungen, Debüts in den wichtigsten Konzerthallen - doch das alles ist Programmheft-Literatur - und interessiert Zinnecker eigentlich wenig. Der Weg dorthin, die Höhen und Tiefen, die Strippenzieher und die Karrieremacher im Hintergrund. Sie werden in den Fokus genommen und ihre Rolle bei der Positionierung und Vermarktung eines neuen Talents deutlich benannt.

Die Musikkritikerin der FAZ, Eleonore Büning, hatte den jungen Pianisten schon einige Jahre auf dem Schirm. 2011 lässt die einflussreiche Kulturfrau ihren Bechstein-Flügel restaurieren. Igor wird zum Hauskonzert eingeladen und kommt an diesem Abend unter die Fittiche der ebenso einflussreichen Presseagentin Maren Borchers. Doch auch mit den richtigen Kontakten ist der Karrierestart kein Selbstläufer.

„Die ersten zwei Jahre verbringt Maren Borchers damit, Interview-Anfragen abzusagen. Es gib ja noch nichts, wofür sich Werbung zu machen lohnt. Als sie für ihre Agentur eine Facebook-Seite gründet, schlägt sie Igor vor: Mach doch eine öffentliche Probe im Maison de France, wir laden über Facebook dazu ein, mal sehen was passiert. Es kommt niemand.“

Nur nicht als Tastentiger im Frühstücksfernsehen enden

Florian Zinnecker beschreibt sehr gut, wie Maren Borchers unermüdlich, aber mit kleinen Trippelschritten versucht, ihren Jungstar vorsichtig zu positionieren. Nur nichts überstürzen, nur nicht als Tastentiger im Frühstücksfernsehen enden, war ihre Ansage. Ein Pianist ist ein Pianist und spricht durch die Musik zu seinem Publikum.

Doch Levit ist nicht zu bändigen. In seinem Twitter-Account bezeichnet er AfD-Mitglieder als „Menschen, die ihr Menschsein verwirkt haben“. So richtig abrücken von seiner Aussage will er weder auf Nachfrage des Nachrichtenmagazins Spiegel noch in der Talkshow von Maybrit Illner. Eine Stunde vor dem nächsten Konzerttermin erhält sein Management eine E-Mail mit einer massiven Drohung:

„Bald werde das Publikum ein blaues Wunder erleben, danach werde Igor die „Judensau“ keine Konzerttermine mehr brauchen, man werde ihm vor Publikum das Maul stopfen.“ 

Darf ein Künstler als politischer Kopf agieren?

Das Konzert findet zwar statt, aber Igor Levit ist in der Folge nicht wieder zu erkennen. Sieben Jahrzehnte nach dem Holocaust wird ein jüdischer Konzertpianist mit dem Tod bedroht.

„Ich habe Angst, aber nicht um mich, sondern um unser Land.“

Darf ein Künstler als politischer Kopf agieren und seine herausgehobene Position zur Meinungsäußerung nutzen oder ist er dazu verdammt, von Sektempfang zu Sektempfang weitergereicht zu werden? Das ist eine der Kernfragen, die Florian Zinnecker in seinem Jahr mit Igor Levit immer wieder aufgreift und mit ihm diskutiert. Der Standpunkt von Levit ist klar: Sein Musikmachen verbindet sich untrennbar mit seinem politischen Aktivismus.

Der Diskurs liest sich spannend und man begreift die vielschichtige Persönlichkeit des Pianisten. Die Abschnitte, in denen über Musik gesprochen wird, fallen dagegen etwas ab. Da kommen selbst die beiden Engagierten nicht um Stereotype und die Phrasendreschmaschine herum.

Die Hauskonzerte in der Corona-Krise

Während der Corona-Krise erreicht Igor Levit mit seinen Hauskonzerten sehr viele Menschen. Zum Ausklang des Buches wird diese Initiative reflektiert und auch schonungslose Kritik an diesem Konzept veröffentlicht.

„Ein prominenter Klassikjournalist feuert in einem Radiokommentar eine Breitseite gegen Igor. Er habe mit seinen kostenlosen Streams dafür gesorgt, dass Musik entwertet werde. Seine Beethoven-Interpretationen seien manieriert, er gebe sich unangepasst, sei aber längst Teil des Establishments, profiliere sich als moralisch einwandfreier Künstler, dabei seien seine Positionen - gegen Antisemitismus und menschenverachtende Flüchtlingspolitik - doch keineswegs bemerkenswert, sondern selbstverständlich.“

Ein Gewinn für das Genre „Musikerbiografie“

Die Neuerscheinung ist ein Aufreger und ein Gewinn für das Genre „Musikerbiografie“. Den Leser*innen bietet das Buch nicht nur eine Fülle von Informationen aus erster Hand. Es lässt in seiner offenen Erzählform Raum für die eigene Interpretation und verheimlicht auch nicht Ecken und Kanten der streitbaren Persönlichkeit.

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Georg Waßmuth