Album-Tipp

Ian Bostridge und Lars Vogt mit Franz Schuberts „Schwanengesang“

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Albrecht Selge
Albrecht Selge (Foto: Pressestelle, Reza Jan Mansouri)

Manchmal kann es im Dezember zu viel werden mit Besinnlichkeit und Festlichkeit, dagegen könnte Schuberts „Winterreise“ helfen. Sie gilt als bewährtes Abwehrmittel gegen klingelnde Glöckchen und allgegenwärtige Weihnachtsoratorien. Eine mögliche Alternative wäre auch ein neu erschienenes Album, das sich in mehrerer Hinsicht den letzten Dingen widmet: Schuberts „Schwanengesang“, aufgenommen vom Tenor Ian Bostridge und dem Pianisten Lars Vogt.

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Ein Zyklus der perfekt funktioniert

Im Alter von nur 51 Jahren starb im vergangenen Herbst, an Krebs, der Pianist Lars Vogt, der hier im Zusammenspiel mit dem Tenor Ian Bostridge zu hören ist. Mit ihm trat er in der Londoner Wigmore Hall auf, zehn Monate vor seinem Tod. Jetzt ist auf Grundlage dieses Konzerts ein Album erschienen, ausschließlich Schubert.

Im Mittelpunkt stehen die vierzehn Lieder des sogenannten „Schwanengesangs“, die zu Schuberts letzten Kompositionen gehören. Der Name „Schwanengesang“ stammt nicht von ihm selbst, und ob die Lieder überhaupt als ein Zyklus gedacht waren, ist unsicher. Klar hingegen ist, dass sie als Zyklus eben perfekt funktionieren und – gut interpretiert – den Hörer schwer anfassen.

Lars Vogts letzte Lieder

So hat die zyklische Aufführung sich eingebürgert, ebenso wie der Titel, auch wenn man ihn etwas aufgeschraubt finden kann, eigentlich zu schwülstig oder rührselig. Es erschüttert einen ja schon so, auch ohne dieses Etikett.

Auch das Wort „Vermächtnis“ ist vielleicht zu hochtrabend, erst recht für einen unmanierierten Musiker wie Lars Vogt, dem das Pathetische eher fremd war. Dass die letzten Schubertlieder nun auch zu seinen letzten Hinterlassenschaften gehören, passt trotzdem. Nicht nur wegen der biographischen Nähe zum Tod, sondern auch, weil für Vogt die Kammermusik immer im Mittelpunkt stand, das gemeinsame, genau kommunizierende Musikmachen im kleinen Kreis.

Begleitung mit Höchstspannung

Teamgeist und Partnerschaftlichkeit bedeutet aber keinesweg Unauffälligkeit oder Sichverstecken des Pianisten. Wenn man den Anfang des berühmten vierten Liedes „Ständchen“ hört, ist man verblüfft, beinah schockiert.

Bei anderen Pianisten rollt das recht gleichmäßig als „Begleitung“ ab. Hier aber herrschen sehr auffällige Höchstspannung, auf engstem Raum starke Tempoverschiebungen – von „push and pull“ sprach treffend ein englischer Kritiker. Das kündigt an und charakterisiert bereits, statt bloß einzuleiten.

Ian Bostridge liebt oder hasst man

Unruhe, Nervosität, ja Überspanntheit: Diese Interpretation passt ideal mit Vogts Partner zusammen, dem englischen Sänger Ian Bostridge. Er polarisiert, die einen schütteln den Kopf über seine Exaltationen und Bizarrerien, seine Ausdrucks-Exzesse. Für andere grenzen Bostridge-Rezitale an Offenbarungen.

Im berühmten „Doppelgänger“ vereinzeln sich bei Bostridge die Phoneme der Worte derart, als hörten man einen Zombie. Das passiert in allen Liedern, Bostridge kann verzerren und zerdehnen, zerstückeln und sogar röcheln. Diesen Sänger liebt man oder hasst man. Aber kalt lässt er niemanden. Lars Vogt gibt als Partner diesem einzigartigen Gesang klaren pianistischen Grund, immer plastisch und deutlich, mit sehr sparsamem Pedalgebrauch auch da, wo der Text mit allerlei „rauschen“ und „brausen“ Vorwände zum Schludern hergäbe.

Zusätzliche Rarität in dem Album

Bostridgehaft skurril ist auch die Aufmachung des Albums: Das seltsame Cover schmücken zwei Schwarzweißkarikaturen des Sängers und des Pianisten. Kurz und sachlich hingegen der Booklettext, nur auf Englisch.

Auf dem Tonträger selbst folgt auf den Schwanengesang, von dem es ja viele Aufnahmen gibt, noch eine ziemliche Rarität: den in sechs Abschnitten durchkomponierten Zyklus „Einsamkeit“. Den komponierte Schubert mit Anfang zwanzig, es hat nicht die unerträglich intensiven Ohr- und Herzwurmqualitäten späterer Schubertlieder, aber lohnt dennoch sehr.

Fehlender Kunstgriff auf der CD

Im Londoner Konzert, das der Aufnahme zugrunde liegt, stellten Bostridge und Vogt diese knapp zwanzigminütige „Einsamkeit“ in die Mitte des unechten Schwanengesang-Zyklus, nach den Rellstab-Lieder und vor Heinrich Heine.

Auf dem Album stehen die beiden Werke dagegen wieder ordentlich getrennt, erst Schwanengesang, dann Einsamkeit. Das ist ein klein bisschen schade. Aber vielleicht würde der Kunstgriff auch in der Konserve nicht dieselbe Wirkung erzielen wie im Livekonzert. Und als Hörer ist man ja sowieso frei, zu ordnen, wie man möchte.

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