Musikmarkt: Buch-Tipp

Henrike Rost wertet Musikstammbücher aus

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AUTOR/IN
Dorothee Riemer

Viele Musiker*innen und Komponist*innen führten Stammbücher und baten ihre Zeitgenoss*innen um Einträge, nicht selten wurde auch kleine Noten-Zitate aufgeschrieben. Die Musikwissenschaftlerin Henrike Rost hat für ihre Doktorarbeit Musik-Stammbücher ausgewertet. Ihre Ergebnisse liegen jetzt als Buch vor.

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Social Networking gab es schon immer. Natürlich nicht digital, sondern handschriftlich und auf Papier in so genannten Erinnerungs- oder Stammbüchern.

Ein typischer Eintrag in das Stammbuch eines Konzertpianisten

Ignaz Moscheles wurde im 19. Jahrhundert als Klavier-Virtuose in ganz Europa gefeiert. Seine Karriere startete er in Wien, wo er auf Beethoven traf, Unterricht bei Albrechtsberger und Salieri nahm und seine Pianisten-Kollegen Hummel und Kalkbrenner kennenlernte. Auf Konzertreisen machte er sich einen Namen als außergewöhnlicher Pianist und traf viele weitere berühmte Musiker-Kollegen und -Kolleginnen. 1825 ließ er sich in London nieder.

„Fahr wohl! Und wenn im freien Land der Brite 'Heil dem König' brüllt, so blick auch auf das Scherz-Gewand, das Freundschaft um dies Lied gehüllt. Dem König gibt das Lied sein Teil, die Hülle ruft 'dem Freunde Heil'!“

Kurz vor Moscheles Abreise in Richtung Großbritannien schrieb Giacomo Meyerbeer diese Zeilen in das Stammbuch des Freundes – zusammen mit Noten einer Verballhornung der britischen Hymne „God save the king“. Ein Eintrag mit Augenzwinkern, der typisch ist für die Stammbuch-Praxis im 19. Jahrhundert.

Eine Neuheit in der Musikwissenschaft

Henrike Rosts Doktorarbeit ist gerade als Buch erschienen. Bisher hat sich die historische Musikwissenschaft nicht besonders für Stammbücher interessiert: Zu wenig ernsthaft schien den Forscher*innen die Quellen, zu gering der Erkenntnisgewinn. Rost beweist auf rund 300 Seiten das Gegenteil. Über 60 Musik-Stammbücher hat sie ausgewertet und kommt zu dem Schluss:

„Generell möchte ich … das große philologische Potenzial von Musik-Stammbüchern, das meines Erachtens viele weitere Funde und Erkenntnisse preiszugeben verspricht, noch einmal herausstellen. Dieses beschränkt sich wohlgemerkt nicht nur auf unbekannte Fassungen von Musikstücken oder gänzlich unbekannte Kompositionen, sondern betrifft auch das Schaffen von Dichter*innen und bildenden Künstler*innen.“

Rost macht es vor: während ihrer Forschungen zu den Stammbüchern entdeckte sie unter anderem Briefe von Rossini und Weber und eine Zeichnung Mendelssohn Bartholdys – alles zuvor unbekannte Objekte. Solche Einzelfunde können zu der Erforschung von Komponist*innen und Musiker*innen neue Aspekte beitragen. Aber auch die Betrachtung der Stammbücher als Ganzes schärft den Blick auf die Musikwelt im 19. Jahrhundert.

Allein schon die Verbindungen sind beeindruckend: Ferdinand Hiller, unter anderem Leiter des Gürzenich-Orchesters in Köln, sammelte über 350 Albumeinträge und führte damit eines der umfangreichsten Musik-Stammbücher. In Ignaz Moscheles Album gab es immerhin 154 Eintragungen, darunter von Persönlichkeiten wie Goethe, Grillparzer, Heine, Chopin, Schumann und Viardot.

Die Individualität der Stammbücher

Kein Stammbuch gleicht dem anderen, jede*r Besitzer*in handhabte die Sammelpraxis ein bisschen anders: Ignaz Moscheles, dessen Album und die seiner Familie Henrike Rost besonders ausführlich analysiert hat, bat Musiker erst um einen Eintrag in seine Sammlung, wenn diese eine gewisse Prominenz erreicht hatten; Clara und Robert Schumann legten mit der Hochzeit ihre Alben zusammen und führten ein Erinnerungsbuch, in das auch Briefe, Blumen und Haarlocken aufgenommen wurden; die Sängerin Wilhelmine Schröder-Devrient sammelte vor allem, wenn sie auf Reisen war. Unterschiede in der Sammeltätigkeit zeigen sich auch zwischen den Geschlechtern, schreibt Henrike Rost:

„Festzuhalten ist …, dass zwar Frauen Musik-Stammbücher führten, die Beiträge selbst aber in der großen Mehrzahl von Männern erstellt wurden, die ihre Zugehörigkeit zu einer kulturellen Elite in der Produktion eigenhändiger Albumblätter festschreiben konnten. Durch das Sammeln und Zusammenstellen von Stammbucheinträgen war es Frauen als Albumeignerinnen jedoch ebenfalls möglich, ihre häufig auf private Geselligkeitskontexte beschränkte Teilhabe am Musikleben und ihre persönlichen Kontakte zu bekannten und repräsentativen Persönlichkeiten zu dokumentieren.“

Fazit

Henrike Rosts Buch ist eine Doktorarbeit, das heißt: wissenschaftliche Sprache, Forschungsstand, Fußnoten, Unterkapitel und Tabellen machen das Buch aus. Es ist also nicht gerade eine entspannte Abend-Lektüre. Dafür finden sich darin so viele Einblicke in das Musikleben des 19. Jahrhunderts und Details über die damaligen Protagonist*innen, dass man immer wieder anfängt zu blättern und zu lesen, um dann erstaunt zu sein, wer wen kannte, wann traf und mit wem korrespondierte.

Besonders spannend auch, wie die einzelnen Künstler oft innerhalb eines Albums kommunizierten. So nutzte beispielsweise Ignaz Moscheles für seinen Beitrag in Clara Schumanns Album eine zuvor eingetragene Notenzeile von Paganini als musikalischen Ausgangspunkt für seine eigene Miniatur-Komposition. Oder man gestaltete gleich ein gemeinsames Blatt mit Text, Noten und Zeichnung wie zu Moscheles Geburtstag, für das sich der Schriftsteller Karl Klingemann, Felix Mendelssohn Bartholdy und Moscheles Tochter Emily zusammenschlossen:

„Die Schrift ist verfertigt von Emily Moscheles … das Gedicht ist von Karl Klingemann… Die Arabesken sind erfunden und die Kleckse ausgeführt von Felix Mendelssohn Bartholdy, dermal in London.“

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Dorothee Riemer