Album-Tipp

Heike Matthiesen: Guitar Divas

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AUTOR/IN
Albrecht Selge

Solomusik für Gitarre in der Klassik: Das ist auf dem Musikmarkt quasi eine Nische in der Nische. Nischennische zum Quadrat wird es, wenn es sich dann auch noch um klassische Gitarrenmusik ausschließlich von vergessenen Komponistinnen handelt, wie auf dem Album „Guitar Divas“ von Heike Matthiesen. Reine Expertinnensache also?

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Signet zur SWR2-Musikstunde

Wenn einem das erste Stück des neuen Albums von Heike Matthiesen bekannt vorkommt, ist man entweder Expertin oder Experte für Gitarrenmusik des 19. Jahrhunderts, oder man hört öfter mal die SWR2-„Musikstunde“, die dieses Stück als Erkennungsmelodie hat.

Es stammt von einer Komponistin, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lebte: Emilia Giuliani oder Guglielmi, denn wie viele Frauen nahm sie mit der Heirat den Nachnamen ihres Mannes an.

Musikstunde Frauen-Klangräume (1–5)

Frauen, die komponieren, die im Orchester musizieren, ja sogar dirigieren? Jahrhunderte lang ist das kaum bzw. gar nicht möglich. Und doch finden Frauen zu jeder Zeit ihre Klangräume.
Der britische Musikreisende Charles Burney etwa schwärmt im 18. Jahrhundert von den singenden und komponierenden Nonnen Italiens. Auch am Hof und in der Stadt erobern sich Frauen ihre Bühne; ob im Salon, im Caféhaus oder in der Oper. Und im 21. Jahrhundert? Da kämpft die Dirigentin genauso um ihren Platz wie die Rapperin oder ein Mädel als Bandmusikerin.
Eine Sendereihe von Jane Höck.

SWR2 Musikstunde SWR2

Expertin für Gitarrenmusik

„Von ihren Werken sind die meisten in Vergessenheit geraten“, heißt es zu Giuliani auf Wikipedia – mit Ausnahme des Präludiums. Aber es kann sein, dass der Wikipedia-Beitrag zu Emilia Giuliani-Guglielmi dank der Gitarristin Heike Matthiesen demnächst geändert werden muss.

Sie ist absolute Expertin für Gitarrenmusik, und sie spielt nicht nur wunderbar – mit sehr warmem, lebendigem Ton – sondern sie stöbert auch nach völlig Unbekanntem. Und so lernt man, dass auch die Rossini-Variationen von Giuliani-Guglielmi entzückend sind.

Zweites Komponistinnen-Album

Schon auf ihrem Album Guitar Ladies von 2016 stellte Matthiesen Musik ausschließlich von Frauen vor. Neben Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts stand dort bereits ein Star des 19., „Madame Sidney Pratten“, die ebenfalls unter dem Namen ihres Mannes in England auftrat. Geboren worden war sie 1821 in Köln als Catharina Pelzer.

Matthiesens neues Album heißt „Guitar Divas“ und widmet sich Komponistinnen des 19. Jahrhunderts. Etwa die Hälfte ist Catharina Pratten gewidmet. Zum Beispiel ein „venezianische Karneval“, aus dessen italienischem Volksliedthema man allerlei bekannte Kinderlieder heraushören kann.

Archiv-Funde

Manch vergessene, verdrängte, verstummte Musik hat Heike Matthiesen im Frankfurter Archiv Frau und Musik entdeckt. So auch einen weiteren venezianischen Karneval, von der spanischen Gitarristin Maria Dolores de Goñi, die in den USA Karriere machte als „Madame Knoop“ – auch sie also unter dem Namen ihres Ehemannes.

Gedicht(e) für Emmerich

Fast völlig im Dunkel der Geschichte verschollen ist dagegen das Leben der Gitarristin Anne Emmerich. Außer den folgenden Versen, die vor 200 Jahren ein offenbar elektrisierter Rezensent über sie schrieb:

Fromm war ihr Blick und sittsam die Gebehrde,
Und zart und rein erklangen ihre Saiten,
Ihr Wesen, all zu hehr für diese Erde,
Schien auf ein schönres Heimathland zu deuten.

Vielleicht sollten auch wir Kritiker heutzutage öfter mal dichten?
Auf ein Werk Emmerichs dürfen wir die Ohren richten.
Außer dem ist nichts erhalten
Von dem, was ihre Saiten malten:
Voll wienerischer Schwermut
schlawinerisch und sehr gut
sechs Variationen
die sich lohnen.

Purer Ausdruck von Freude am Dasein

Das Album Guitar Divas ist alles andere als irgendeine Fleißarbeit im Dienste historischer Vollständigkeit. „Temperament“ und „übersprudelnde Leichtigkeit“ nennt Heike Matthiesen als Kennzeichen der Stücke, die sie zusammengestellt hat. Es geht nicht um das Ergründen letzter und allerletzter Dinge, sondern um Hörgenuss, mit einem historischen und emanzipatorischen Plus. 

„Salonmusik“ ist hier kein Schimpfwort, sondern ein Versprechen. Im Booklet des Albums steht ein kurzer Dank ans Team der Uniklinik Frankfurt. Heike Matthiesen ist seit Jahren auf verschiedenen Social-Media-Kanälen auf angenehme, humorvolle Weise präsent und schreibt dort auch offen über ihre langwierige Krebserkrankung. Ihr neues Album ist purer Ausdruck von Freude am Dasein.

Absolut hörenswert

In diesem lebensbejahenden Sinn lässt sich auch das Cover deuten. Auch visuell überzeugend nannte ein Rezensent eine frühere Platte von Matthiesen. Das hinreißende Titelfoto des neuen Albums, mit viel Haut, endlosen Absätzen und augenzwinkernder Laszivität – das ist so heiß, dass es einem quasi die Netzhaut wegflammt.

Und was drin steckt, ist absolut hörenswert, definitiv nicht nur für Gitarrenspezialisten.

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Albrecht Selge