Buch-Tipp

Neuer Roman von Hanns-Josef Ortheil: „Wie ich Klavier spielen lernte“

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AUTOR/IN
Desirée Löffler

Hanns-Josef Ortheil hat einen autobiographischen Roman über seine Jugend veröffentlicht, und darin geht es vor allem um eins: die 88 Tasten seines Klaviers, und wie sie sein Leben geprägt haben. Desirée Löffler hat das Buch gelesen.

„Wie ich Klavier spielen lernte“. Besonders aufregend klingt dieser Titel nicht. Eher nach stickigen Musikschulfluren, Notendiktaten, Klassenvorspielen und Tonleitern. Aber ziemlich schnell wird klar, dass Hanns-Josef Ortheils Geschichte so trivial nicht ist. 

Klavier mit therapeutischer Wirkung

Ein altes Klavier der Firma Seiler zieht auf diesen ersten Seiten bei einer Kölner Familie ein. So weit, so gewöhnlich. Aber die Wohnung, in der das Pianino von nun an zu Hause sein wird, ist ungewöhnlich still. Innerhalb weniger Jahre sind den Ortheils vier Söhne verstorben, das letzte überlebende Kind, Johannes, spricht mit seinen fast fünf Jahren kein Wort, auch die ist Mutter verstummt. Erst das Klavier bringt ganz behutsam neuen Klang in das Leben der Familie.

Es dauert nicht lange, bis Johannes' Mutter ihren Sohn mit dem Instrument bekannt macht. Der fängt sofort Feuer.

Damit beginnt für Johannes nicht etwa das übliche Musikschulprogramm mit seinen klaren Strukturen und Abläufen, sondern eine jahrelange Odyssee, die ihn und den Leser mit den verschiedenen musikpädagogischen Strömungen der 50er und 60er Jahre bekannt macht.

Kunterbunte Parade von Klavierlehrern

Johannes' erste Lehrerin ist seine Mutter. Sie gestaltet seinen Unterricht anhand von Briefen, die der Klavierpädagoge Carl Czerny vor ungefähr 200 Jahren an eine junge Schülerin geschrieben hat – und nach einem halben Jahr beginnen Mutter und Sohn, wieder zu sprechen. Bald darauf gibt Frau Ortheil die musikalische Erziehung ihres Sohnes in fremde Hände, und damit tritt eine kunterbunte Parade von Klavierlehrern auf den Plan. Da wäre zunächst die Dame, die in Moskau studiert hat, jede Stunde mit einem Ausflug in die Welt der russischen Literatur beginnt, und verlangt, dass ihr Schüler Taschaikowskys Kinderalbum möglichst „poetisch“ spielt.

Als nächstes ist da der Lehrer, der nach der Methode von Walter Giesking unterrichtet. Für Johannes heißt das: Bevor der erste Ton erklingen darf, muss er jedes Stück zunächst bis ins kleinste analysieren und auswendig niederschreiben. Auch das geht nicht lange gut. Es folgen die Koryphäe, die aus dem Jungen einen Universalgelehrten machen will, der Lehrer, der ihn zur Orgel drängt und schließlich die leistungsorientierte Pianistenklasse.

Alle diese Lehrer repräsentieren einen bestimmten Pianisten-Typus und damit nicht nur einen möglichen Lebensentwurf für Johannes, sondern auch eine Philosophie des Lernens, die nicht nur in der Welt der klassischen Musik existieren dürfte. Gemeinsam ist Johannes' Lehrern vor allem, wie bedingungslos sie ihren jeweiligen Ansatz verfolgen. Trotzdem weiß er sich gerade als kleineres Kind erstaunlich gut zu wehren.

Dennoch reicht die Sicherheit, die er als Kind hat, nicht aus, um sicher durch das Labyrinth der Schulen und Philosophien zu navigieren. Daraus macht Ortheil keinen Hehl: Von Anfang an flicht er in die Erzählung aus seiner Jugend Kapitel ein, die heute spielen, und in denen der Schriftsteller sich langsam wieder seinem Klavier annähert.

Chronik des Scheiterns

Ortheils Geschichte ist also etwas, das man nur sehr selten zu lesen bekommt: Eine Chronik des Scheiterns. Schließlich sind diejenigen, die ihre Erinnerungen an ihre musikalischen Lehrjahre aufzeichnen und veröffentlichen, normalerweise Stars, und ihre Lebenswege sehen meistens tatsächlich anders aus: Sie finden recht schnell den richtigen Lehrer, und gehen von da an geradewegs bis zum Erfolg. Vielleicht hätte Ortheil noch ein wenig tiefer schürfen können. Warum er den richtigen Lehrer nicht finden konnte und wie er sich besser gegen die Ungewissheiten der verschiedenen Philosophien hätte zur Wehr setzen können, ergründet er nicht.

Trotzdem ist „Wie ich Klavierspielen lernte“ ein mutiges und ermutigendes Buch, das zeigt, dass das Scheitern eines Ziels nicht das Scheitern eines Menschen bedeutet, schließlich ist Orhteil mittlerweile Bestsellerautor. Erstaunlicher Zündstoff also, der sich hinter dem braven Buchtitel verbirgt, und der niemanden kalt lassen dürfte, egal mit welcher pianistischen Affinität er das Buch aufschlägt.

Buch-Tipp vom 7.6.2019 aus der Sendung SWR2 Treffpunkt Klassik

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Desirée Löffler