Der Dominantseptakkord
Ich brauche dringend eine Exit-Strategie: Wie entkomme ich in Krisenzeiten der völlig enthemmten Prokrastination? Ich hatte mir das zunächst ganz okay vorgestellt, denn als Komponist ist man ohnehin sowohl an gelegentliche Isolation als auch ans Home-Office gewöhnt.
Deshalb könnte man denken: Ein einsames Komponierhäusel ist doch eigentlich ein Träumchen für jede Komponistin und jeden Komponisten. Kaum Anrufe, keine Proben, keine Veranstaltungen, bei denen man sich sehen lassen muss. Nicht mal ein Social-Media-Streaming-Angebot mit kalenderblattartigen Trosttextchen, Liedern und derlei wird von mir erwartet.
Komponieren ist ja so unglaublich langweilig anzusehen
Ich könnte jetzt natürlich mein Arbeitszimmer ein bisschen unordentlich machen, mir einen Dreiviertagebart wachsen lassen und dann Komponistenalltag auf Instagram streamen: Bleistifte spitzen, rumradieren, Bildschirm anstarren, das Ladekabel der ungeheuer ergonomischen Maus suchen.
Aber Komponieren ist leider so wahnsinnig langweilig, das will ja niemand gucken. Ich schaue mir mittlerweile im Internet nichts mehr wirklich an, das schmeckt nur noch nach Tütensuppe.
Der Zweifel wächst
Wenn ich es recht überblicke, dann changieren wir Musikerinnen und Musiker in der Krise oft hin und her zwischen hyperaktivem Onlinegewusel – à la: »seht her, seht her, es gibt mich noch!« und völliger Lethargie – à la »ich lese Proust nur noch auf georgisch«.
Ich wäre jetzt jedenfalls gerne systemrelevant und entdecke, wie etwas in mir wächst, was sonst nur ein zartes Pflänzchen ist: Zweifel. Was zum Geier mache ich hier eigentlich?
Ich ertappe mich peinlicherweise beim melancholischen Blick auf meine schicke Lieblingsfliege. Kann ich die jemals wieder anziehen? Lohnt es sich überhaupt, diese ganzen Noten in irgendeine Reihenfolge zu bringen? Wird es noch Leute geben, die das spielen und hören wollen? Wieso habe ich sieben Mousepads – und wie werde ich meine Bahncard los?
Und schon wird's peinlich
Anstatt, wie sonst, heimlich die tollsten instrumentatorischen Kniffe bei Maurice Ravel zu stibitzen, versorge ich die Eichhörnchen im Garten mit Erdnüssen und schaue fast stündlich, ob die vorgestern gesäten Radieschen schon sprießen.
Und schon wird’s wieder peinlich, denn: was soll das Gejammer – ich kann ja in den Garten und immerhin habe ich vielleicht bald Radieschen. Der Zweifel wächst weiter.
Und wenn ich dann gelegentlich lese, dass man so einer Krise für die Zukunft auch etwas Positives abgewinnen könne, dann kommt zum Zweifel noch Ärger hinzu – denn wenn Menschen sterben, dann ist nichts, aber auch gar nichts positiv zu sehen.
Wie ein Akkord, der nicht recht weiß, wohin es geht
Als Komponist fühle ich mich nun wie ein irrlichtend vagierender Akkord, der nicht recht weiß, wohin es geht. Andererseits ahne ich, dass wir wohl alle gerade wie ein in die Öde gerammter Dominantseptakkord sind, der sich partout seiner Auflösung in eine gescheite Tonika entzieht.
Also: Ich ziehe meine beste Klamotte an, Fliege, Lackschuhe – das ganz große Besteck – und dann nehme ich wieder Haltung an und es geht ab an den Bleistift. So mache ich das! Morgen. Oder Übermorgen.