Musikmarkt: Buch-Tipp

"Gesang vom Leben – Biografie der Musikmetropole Leipzig" von Hagen Kunze

Stand
AUTOR/IN
Nicole Strecker

Audio herunterladen (10,7 MB | MP3)

Leipzig – das ist die Stadt von Johann Sebastian Bach und von Mendelssohn-Bartholdy – oder eigentlich: vom Who-is-Who der klassischen Musik. Wer etwas auf sich hielt, musste nach Leipzig, ob das Mozart oder der Teufelsgeiger Paganini waren, Max Reger oder Richard Strauss.

Vor allem zwei Institutionen stehen dort für musikalische Spitzenleistungen: der Thomanerchor und das Gewandhausorchester Leipzig. Der in Leipzig lebende Musikjournalist Hagen Kunze hat nun eine Chronik über das städtische Musikleben dort geschrieben. Nicole Strecker hat die Biografie einer Musikhauptstadt gelesen.

Die Stadt Leipzig und ihr Thomaskantor

Sie hat sich nicht gerade um ihn bemüht, um den Mann, den man später einmal den bedeutendsten Thomaskantor aller Zeiten nennen würde. Eigentlich hat die Stadt Leipzig Telemann für das Amt im Auge. Oder wenigstens Johann Friedrich Fasch oder Christoph Graupner.

Im Winter 1722 bewirbt sich Johann Sebastian Bach um den Posten des Thomaskantors. Aber: Wer ist er schon? Hofkapellmeister im kleinen Köthen. Nicht mal ein Studium kann er vorweisen und sein "Wohltemperiertes Klavier" überzeugt als Lehrwerk auch nur halb.

Da man nun die besten nicht bekommen könne, müsse man mittlere nehmen.

Und so unterschreibt im Frühjahr 1723 Bach einen Anstellungsvertrag. Woche für Woche schreibt er eine neue Kantate. Später kommen noch die Johannes- und Matthäuspassion hinzu, die alle Maßstäbe von bisheriger Kirchenmusik sprengen. Geniekunst.

Bachs später Ruhm

Doch in den Augen seiner Zeitgenoss*innen bleibt Bach ein gewöhnlicher Musiklehrer, der, als er 1750 stirbt, nur eine schmucklose Grabstätte bekommt. Erst Jahrhunderte später werden seine Gebeine in den Chorraum der Thomanerkirche überführt – auch das ein wenig glamouröser Akt. Der Kutscher soll sie mit den Worten geliefert haben: „Tach, ich bring Bach!“

Leipzig – "The place to be"

Die Stadt Leipzig und ihre Musikgeschichte – wer bislang glaubte, er müsse nach Wien oder Paris, um eine legendäre Musikstadt zu sehen, dem zeigt der Publizist Hagen Kunze in seiner unterhaltsamen „Biografie der Musikmetropole“ nun: Leipzig ist „the place to be“.

Hier reift Mahler zum Sinfoniker der Moderne und gründet Felix Mendelssohn-Bartholdy die älteste Musikhochschule Deutschlands. Hier entflammt die unsterbliche Liebe zwischen Clara und Robert Schumann, wird Richard Wagner geboren und beeindruckt Dirigent Kurt Masur mit Zivilcourage während der Montagsdemonstrationen gegen das DDR-Regime.

Wir alle brauchen freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus  in unserem Land. ... Wir bitten Sie dringend um Besonnenheit, damit der friedliche Dialog möglich wird.

Beginn der Chronik im Jahr 1212

Damals gründet der sächsische Markgraf mit dem Namen „Dietrich der Bedrängte“ ein Kloster. Der berühmte Minnesänger Heinrich von Morungen reist an, liefert die Reliquien des Heiligen Thomas und sorgt dann als Chorherr für frühen künstlerischen Ruhm seiner Thomaner.

Das Besondere dabei: Während an anderen Schulen nur der Klerikernachwuchs unterrichtet wird, dürfen an die Thomasschule auch die Söhne des Bürgertums gegen Zahlung von Schulgeld. Was sich die Leipziger locker leisten können.

Denn an diesem günstig gelegenen Ort blüht der Handel seit Jahrhunderten. Hier kreuzen Via Regia und Via Imperia, Königs- und Reichsstraße. Zwei Handelsrouten, die sich von Ost nach West und von Süd nach Nord durch ganz Europa ziehen.

Reiches Bürgertum schreibt Musikgeschichte

1190 erhält Leipzig das Messeprivileg, das die Stadt zum größten Handelsplatz zwischen West- und Osteuropa macht. So ist es das reiche Bürgertum, das hier Musikgeschichte schreibt. Im 18. Jahrhundert gründen 16 Kaufleute zu ihrer Unterhaltung ein Orchester. Die älteste, nicht-höfische Musikvereinigung spielt bald auf einem hölzernen Dachboden des Gewandhauses Leipzig, auf dem früher Stoffe getrocknet wurden.

Der Holzsaal fungiert als Resonanzkörper und wirkt wie ein Musikinstrument. Das lässt Musiker aus Nah und Fern schwärmen. Dem Geheimnis des warmen Klangs kommt man jedoch nie auf die Spur.

Das Gewandhausorchester wird Kult. Geschichten von großen Komponisten, bedeutenden Institutionen, erzählt Musikjournalist Hagen Kunze. Und von verblüffenden Innovationen. 1719 gründet sich dort der älteste Musikverlag der Welt: Breitkopf & Härtel.

Im Gegensatz zum Buchdruck, für den ein paar Dutzend Lettern reichen, benötigt man für die Herstellung von Musikalien hunderte Typen – ein Aufwand, den Drucker lange scheuen. ... Erst Breitkopfs Idee, die Lettern in kleinste Bestandteile zu teilen, um sie dann flexibler miteinander kombinieren zu können, öffnet die Tür für die Massenproduktion.

Leipzig gehörte zur Eliteliga des Klavierbaus

Später zählt Leipzig mit gleich 20 Klavierfabriken – darunter die Pianofortefabrik Blüthner – zur Eliteliga des Klavierbaus. Und 1924, nur vier Monate nachdem erstmals die legendären Worte durch den Äther rauschten Achtung Achtung, hier ist die Sendestelle Berlin“, geht auch die Mitteldeutsche Rundfunk AG auf den Sender.

Acht Jahrhunderte Musikgeschichte

Acht Jahrhunderte Musikgeschichte erzählt Hagen Kunze in seiner zugänglich geschriebenen Stadt-Biografie, mit liebevollem Blick auf die Schrullen der Musikhero*innen und ganz ohne eigene Eitelkeiten. Ein Who-is-Who der Musikgeschichte in knappen Kapiteln, mit der richtigen Mischung aus Anekdoten und Fachwissen – inklusive Exkursen in die Jazz-, Techno- und Popgeschichte.

Hommage an die utopische Kraft der Musik

Was etwa wäre die Band „Die Prinzen“, wenn sie nicht in ihrer Jugend stundenlang Bachkantaten gesungen hätten als Zöglinge des Leipziger Thomanerchors? So ist Hagen Kunzes Chronik immer auch Hommage an die utopische Kraft der Musik. Manchmal, zeigt diese im Henschel Verlag zum Preis von 25 Euro erschienene „Biografie einer Musikmetropole“, kann Musik eben doch die Welt verändern.

Zeitwort 7.4.1724: Johann Sebastian Bach führt die Johannespassion auf

Über fünf Stunden dauerte 1724 der Karfreitagsgottesdienst mit Johannespassion. Die Gemeinde in der Leipziger Nikolaikirche war eher erschöpft statt ergriffen.

SWR2 Zeitwort SWR2

Stand
AUTOR/IN
Nicole Strecker