Musikthema

„Wir denken, Musik ist immer politisch“: Das Podium in Esslingen 2023

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AUTOR/IN
Elisabeth Hahn
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Dominic Konrad

In Esslingen, abseits der Großstadt Stuttgart gründete der Musikstudent Steven Walter 2009 ein Festival. Damals war noch nicht klar, dass es den klassischen Musikbetrieb ziemlich aufmischen würde. Unter der Leitung von Walters Nachfolger, dem Geiger Joosten Ellée, läuft das Festival seit dem 20. April.

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Vier aktivistische Konzerte für die Verkehrswende

Streicherklänge in einer Esslinger Unterführung: Zwischen Beton, Graffiti und Verkehrslärm steht das Publikum vor der provisorischen Bühne.

Einige von ihnen halten Schilder hoch mit Slogans wie: „Generalbass statt General Motors“, „Blechbläser statt Blechlawinen“ oder „Geh zurück an die Orgel, Volker Wissing.“ In vier aktivistischen Konzerten protestiert das Podium Festival gegen Straßenlärm und für die Verkehrswende.

Podium Esslingen 2022: „Be Change“ (Foto: Pressestelle, Podium Esslingen / Sophia Hegewald)
Musik ist politisch, so die Devise des Festivals. Das kommt auch im Programm zum Ausdruck, etwa 2022 im Projekt „Be Change“

„Wir denken, Musik ist immer politisch.“

Klassik und Aktivismus ist eine ungewöhnliche Kombination. Doch genau dafür steht die Initiative Podium Esslingen seit fast 15 Jahren. Mit provokanten Konzertformaten an ungewöhnlichen Orten, mit innovativen Konzepten und Themen, die vor allem die junge Generation tief bewegen.  

„Wir machen sehr bewusst sehr politische Konzerte“, erklärt Selma Brauns. Geschäftsführerin von Podium Esslingen. „Wir denken, Musik ist immer politisch und wir wollen Aussagen formulieren und mit denen uns auseinandersetzen und auch gerne mal mit kontroversen Themen spielen.“

In insgesamt 27 Veranstaltungen gibt das Podium Festival 2023 den Abgründen unserer Zeit, den existentiellen Fragen, der Verzweiflung und der Resignation künstlerischen Raum. Zum Nachdenken, zum Protestieren und vielleicht auch zum Heilen.

Teil des Esslinger Festivals: „Tannhäuser“ als TikTok-Oper

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Partizipativer Protest gegen Artenstreben und für klangliche Vielfalt

Auf dem Programm stehen eine Tik-Tok-Oper, Superheldinnen-Musik oder Stimmen aus dem ukrainischen Widerstand. Im Esslinger Maille-Park widmet sich das Projekt „Last Chance to Hear“ dem Artensterben.  

Durch die Zerstörung des Ökosystems leidet auch die klangliche Vielfalt. Mit musikalischen Mahnmalen setzt das Podium Festival ein klares Zeichen. Zwischen Spielplätzen und Springbrunnen hängen vier Klangboxen in den Bäumen des Maille-Parks. Vier bedrohte Tierarten bekommen so eine eigene Stimme, darunter der Goldregenpfeifer oder der afrikanische Elefant.

Es gibt Komplimente und Wünsche für den bedrohten Elefanten. „Last Chance to Hear“ ist ein partizipatives Projekt mit Kindern und Jugendlichen aus Esslingen. Sie haben Klänge erforscht und  aufgenommen. Dieses Material wurde von zwei Komponistinnen verarbeitet.

Partizipation spielt eine wichtige Rolle bei Festival-Team und Publikum

Kulturelle Bildung und Partizipation sind ein wichtiges Element des Podium Festivals. Auch bei anderen Veranstaltungen werden die Stimmen und Meinungen des Publikum oder der Esslinger Bürger*innen eingebunden.

Partizipation spielt aber auch eine Rolle beim Festival-Team und bei den teilnehmenden Musiker*innen. Ganz bewusst überlässt die Leitung den Künstlerinnen und Künstlern die Federführung und unterstützt sie bei der Umsetzung ihrer Ideen.

„Diese Kombination aus ‚Wir produzieren es‘, ‚‘Wir schaffen es‘ und ‚Wir überlassen jungen Talenten quasi zum ersten Mal selber, das basteln zu können‘“, erklärt Selma Brauns das Konzept des Festivals. „Beides ermöglicht eben unglaublich viel innovative, neue Formate, die auch spontan entstehen können. Die auch sehr schnell auf aktuelle Themen reagieren können.“

Podium Festival 2022: Schweigend singende Straßen (Foto: Pressestelle, Podium Esslingen / Sophia Hegewald)
Kammermusik beim Podium Festival 2022: Schweigend singende Straßen

Mit Joseph Haydn auf aktuelle Themen reagieren

Im Zentrum des Festivals steht mit „Sieben letzte Worte unseres Erlösers am Kreuze“ Musik von Joseph Haydn. In einem groß angelegten Sonderprojekt wird die Komposition mit den biblischen Worten in einen ganz neuen Kontext gesetzt und einem neuen Text von Charlotte Krafft sowie einer Auftragskomposition der Iranerin Farzia Fallah gegenübergestellt.

„Sieben letzte Worte – Kein Erlöser am Kreuz“. So heißt die 7-teilige Konzertreihe mit dem Ensemble Reflektor, die beim Abschlusskonzert in der Gesamtaufführung der Musik von Fallah und Haydn gipfelt. Diesen Konzerten geht ein langer Prozess voraus.

In Workshops mit jungen Menschen wurde über die Krisen unserer Zeit debattiert: Demokratie, Familie, Klima oder Religion, es sind düstere Themen und nur wenig Hoffnung. Einziger Trost bleiben die offene Debatte, der Wille zur Auseinandersetzung und, nicht zuletzt, die Kraft der Musik.

Das Podium Festival verschließt nicht die Augen vor der Realität

Im Gegensatz zu vielen anderen Bereichen des klassischen Musikbetriebs scheut das Festival sich nicht, Meinungen lautstark zu präsentieren, die sicher nicht allen Menschen im Publikum gefallen.

Joosten Ellé, der neue künstlerische Leiter und  Nachfolger des Festivalgründers Steven Walter, nimmt vor allem die  Geschlechtergerechtigkeit sehr ernst. Und das ist gut so. Die Relevanz von klassischer Musik in der heutigen Zeit kann so jedenfalls kaum jemand anzweifeln.

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