Neue Studie

Klassik und Förderung im Elternhaus: Bleibt die Klassikwelt Nicht-Akademikern verschlossen?

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Nick-Martin Sternitzke
ONLINEFASSUNG
Dominic Konrad

In Sachen Diversität tut sich einiges in der klassischen Musik: Fragen um Identität und Gleichberechtigung der Geschlechter werden diskutiert. Trotzdem bleibt die Klassikwelt für viele Interessierte oder angehende Musikerinnen und Musiker ein abgeriegeltes System – schlicht, weil sie es sich finanziell nicht leisten können oder der familiäre Hintergrund nicht stimmt. Es braucht mehr Chancen für Klassik-Quereinsteiger, findet auch VAN-Herausgeber Hartmut Welscher.

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Manche Dinge tut man nicht in der Klassik-Welt

Ein Meisterkurs der Mezzosopranistin Christa Ludwig. Das silberne Haar hat sie in dynamische Wellen gelegt, trägt schwarze, schlichte Kleidung. Einen Farbtupfer hat sie sich erlaubt: Auf ihren Schultern liegt ein mit Blumen verziertes Tuch. Sichtlich um Contenance bemüht, beobachtet sie den Auftritt ihrer Meisterschülerin, die mit gleich zwei ins Auge springenden Accessoires aufwartet.

Christa Ludwig, die sich jetzt wie der Drache Fafner aufbäumt, sprüht Funken: „Sehen Sie, das hätte man zu meiner Zeit nicht getragen: so ein Tütü-Kleid und rote Stiefelchen“, bemerkt die große Mozart-Interpretin. „Also wenn Sie Liederabend singen, muss man aufpassen, dass das Kleid nicht das ganze Interesse des Publikums anzieht.“

Die junge Dame streift den Tütü-Unterrock gelassen ab. Die Gouvernanten-Härte, mit der sich Christa Ludwig aufgebaut hat, ist im Nu weggefegt. Eines zeigt diese Szene vor allem: Manche Dinge tut man nicht in der Klassik-Welt. 

Christa Ludwig bei einer Meisterklasse in Karlsruhe 2016 (Foto: IMAGO, Gustavo Alabiso)
Die legendäre Mezzo-Sopranistin Christa Ludwig (1928 - 2021) gab noch im hohen Alter Meisterklassen, hier etwa im April 2016 an der Musikhochschule Karlsruhe.

Der codierte Habitus der Klassik-Branche erschwert den Quereinstieg

„Es gibt natürlich Codes, die so einen Habitus umschreiben, wie man sich in dieser Welt verhält“, meint Hartmut Welscher. Er ist Herausgeber von VAN, einem unabhängigen Online-Magazin für klassische Musik. „Also: Welche Hierarchien es gibt, wie man sich bei Konzertritualen verhält, wie man sich bei Auftritten verhält, wie man sich gegenüber Lehrerinnen und Lehrern verhält.“

Welscher hat recherchiert, welche Barrieren Neulingen und Quereinsteigenden den Weg in die Klassik-Branche erschweren. Zuallererst liegt das an unterschiedlichen Bildungsvoraussetzungen.

„Das ist ja ein alter Hut, dass es in Deutschland um die Bildungsgerechtigkeit und die Bildungschancen nicht so wahnsinnig gut bestellt ist“, so der VAN-Herausgeber, „und das findet seine Verlängerung auch in der musikalischen Bildung.“

Musikunterricht muss man sich leisten können

Laut einer aktuellen Studie des Musikinformationszentrums war die Ausbildung der Hälfte aller Berufsmusikerinnen und -musiker nur mit der finanziellen Unterstützung der Eltern möglich. Musikunterricht muss man sich leisten können. Für Kinder und Jugendliche aus akademischen oder bildungsbürgerlichen Familien ist die musikalische Grundausbildung eine Selbstverständlichkeit. Und das schon seit dem 19. Jahrhundert. 

Kindern und Jugendlichen aus bildungsbürgerlichen Haushalten sind die Kanon-Werke früh vertraut. Konzertbesuche gehören zum Freizeitprogramm, Rituale im Opern- oder Konzerthaus werden erlernt und verinnerlicht. Hartmut Welscher und sein Team haben durch Befragungen herausgefunden, dass der Einstieg in die Welt der klassischen Musik mit vielen Hürden verbunden ist, gerade für Musiker*innen aus nicht musikalisch geprägten Familien. 

Grundschülerin beim Klavierunterricht (Foto: IMAGO, Shotshop)
Wer aus einem musikaffinen Elternhaus kommt, hat bessere Chancen: Laut einer Studie des MIZ haben 56% der Eltern von Berufsmusizierenden selbst Musik gemacht. Sie haben im Durchschnitt mit 9 Jahren mit dem Musizieren angefangen.

Wer nicht früh gefördert wird, verpasst wertvolle Übungszeit

Wer nicht früh genug mit der Ausbildung an einem Instrument, mit Gesang und Ballett anfängt, hat einen wesentlichen Teil der Übungszeit, die nun einmal nötig ist, verschenkt. Wie findet man die richtige Mentorin, den passenden Lehrer? Wie kann musikalische Frühförderung bei Kindern aussehen? Für das alles ist enormes Insider-Wissen nötig.

Das betrifft auch das Musik-Studium an der Hochschule: Da spielen Namen eine wichtige Rolle, sagt Hartmut Welscher. Wer hat wann mit wem studiert und wurde von wem unterrichtet und gefördert? Und nicht zuletzt geht es auch darum, wie man über Musik redet. 

„Gerade, wenn es um klassische Musik geht, hat sich ein bestimmter Sprachduktus ausgebildet“, so Welscher. „Wenn man dem nicht folgt, wird man vielleicht auch eher naserümpfend angesehen.“

Sphinx Virtuosi Orchestra  (Foto: IMAGO, ZUMA Wire)
Förder-Initiative in den USA: Das Sphinx Virtuosi Orchestra hat sich der Förderung von ethnischer Diversität in der klassischen Musik verschrieben.

 Sprache macht Musik zum exklusiven Terrain

Hartmut Welscher erlebt diese codierte Ausdrucksweise auch im musikjournalistischen Alltag: „Das erleben wir auch immer sehr stark als Magazin, dass Menschen, die eine sehr gute, frische oder auch sehr eigene Schreibe haben, wenn es dann um klassische Musik geht, eher zurückfallen oder sich beziehen auf eine sehr klassische Art des Ausdrucks.“

Es gebe anscheinend ein Gefühl, dass man über Klassik auf bestimmte Art sprechen müsse und man sich ihr nicht mit seiner eigenen Sprache so nähern dürfe. „Es gibt bestimmte sprachliche Codes, die man bestätigen muss“, sagt Welscher.

Sprache überhöht Musik und macht diese zum exklusiven Terrain. Wer das betreten darf, entscheidet nach wie vor zu großen Teilen der eigene sozioökonomische Hintergrund.

Die Klassik-Welt braucht mehr Aufstiegsgeschichten von Nicht-Akademikern

Wenn es nach Hartmut Welscher geht, braucht es viel mehr Quereinsteiger in dieser Branche, „um Formate zu entwickeln, die jetzt wirklich auch mal andere ansprechen, und eben nicht nur diese Menschen, die eh schon in diesen ‚Geheimgesellschaften‘ unterwegs sind.“

Sicher, die Klassik-Szene wird vielfältiger – vor allem, wenn es um Fragen nach Identität und Gender geht. Das Thema „Soziale Herkunft“ spielt aber keine große Rolle in den Debatten. Die Aufstiegsgeschichten von Musikerinnen und Musikern aus dem nicht-akademischen Milieu fehlen noch.

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