Nicht nur für die Kirche sind die vielen Austritte der letzten Jahre verheerend, sondern auch für die Kirchenmusik. Besonders Jugend- und Kinderchöre sind betroffen, dabei sind jene gerade auf dem Land bedeutend für die musikalische Bildung. Axel Brüggemann hat in diesem Kommentar eine klare Botschaft: Die Musik kann bei der Wiederentdeckung der Gemeinschaft helfen.
Die Krise der Kirchen ist auch eine Krise der Kirchenmusik
Die Zahlen sind erschreckend: 2021 gab es in Deutschland 640.000 Kirchenaustritte, 360.000 in der katholischen Kirche, 280.000 in der Evangelischen Kirche – und die hat für letztes Jahr noch einmal 100.000 Austritte mehr gemeldet.
Die Kirchenflucht wirkt sich natürlich auch auf das Gemeindeleben aus: Gemeinden, die fusionieret werden, Kantoren, die Dienst in mehreren Gemeinden machen müssen und Chöre, die einfach nicht mehr zu Stande kommen.

Auf dem Land sind die Kirchen Bastionen der musikalischen Bildung
Für den Diozösan-Musikdirektor in Passau, Marius Schwemmer, ist die aktuelle Situation bedrohlich: Durch die Corona-Pandemie sei ein großer Teil der Kirchenmusik einfach eingestellt worden und danach seien viele Ensembles und Chöre nicht wieder auf die Beine gekommen.
Dabei sind gerade in ländlichen Regionen die Kirchen oft die letzten Bastionen der musikalischen Breitenbildung. Orte, an denen gemeinsam Musik gemacht wird, während der Musikunterricht an deutschen Grundschulen zur Hälfte ausfällt.
Gerade bei Kinder- und Jugendchören ist der Vertrauensverlust groß
Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker beklagen vor allen Dingen den Vertrauensverlust in die Institution Kirche. Der sei gerade bei Kinder- und Jugendchören groß, sagt Schwemmer.
Und klar: Welche Eltern geben ihre Kinder vollkommen angstbefreit in eine Institution, die ihre Übergriffe nicht ordentlich aufarbeitet? Vertrauen sei das A und O, sagen Kirchenmusiker*innen, wichtig auch die Bereitschaft, aus alten Fehlern zu lernen.
Gemeinschaft neu entdecken durch Musik statt durch Glauben?
Nur eine Kirche, der die Menschen vertrauen und die glaubwürdig ist, kann wieder zu einer Kirche der Gemeinschaft werden. Eine Gemeinschaft, wie sie auch das gemeinsame Musizieren voraussetzt.
Dabei ist die Gemeinschaft der Musizierenden, etwa in einem Chor, oft enger gestrickt als die Gemeinschaft der Gläubigen. Mit anderen Worten: Das Musikmachen könnte auch eine Wiederentdeckung der Gemeinschaft sein. Eine praktische Möglichkeit, christliches Miteinander zu erleben. Musik als Möglichkeit, der Kirche aus der Krise zu helfen.

„Wir müssen wieder mehr auf die Menschen eingehen.“
Ähnlich sieht das der protestantische Kirchenmusikdirektor von Kassel, der Organist Eckhard Manz. Er beobachtet derzeit besonders das Auseinanderfallen ländlicher Musikstrukturen und wünscht sich von der Institution Kirche mehr Freiheit, um zu reagieren.
Oft würden Stellen zu starr besetzt, Erwartungen nicht an die Bedürfnisse der Gläubigen angepasst. In allen gesellschaftlichen Gruppen würden neue Chöre entstehen, sagt Manz, nur in der Kirche werden sie geschlossen.
Seine Forderung: „Wir müssen wieder mehr auf die Menschen eingehen. Unsere Freiheit als Musiker verteidigen.“ Damit meint er nicht, dass in Gottesdiensten banale Populärmusik als Anbiederung gespielt werden soll. Gerade die lange Tradition der Kirchenmusik sei ein Beweis, dass die Qualität am Ende der beste Maßstab sei.
Vielleicht hilft der Kirche in der Krise tatsächlich der radikale Perspektivenwechsel
Nicht länger zu fragen, welche Musik die Kirche braucht, sondern welche Kirche eigentlich die Musik braucht – denn in ihr vereinen sich so viele Elemente der Gemeinschaft, in der fast göttlichen Kunst des Musizierens.
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