Der Krieg in der Ukraine hat unser Leben auf den Kopf gestellt. Plötzlich ist ein Land im Fokus, von dessen Kultur viele kaum etwas gewusst haben. Auch Thomas De Hartmann war bisher weitgehend unbekannter Komponist, was sich jedoch gerade ändert. Seit 2006 kümmert sich das „Thomas de Hartmann Project“ unter Pianist Elan Sicroff um seine Werke.
Folklore neu erfunden
Der Komponist Thomas de Hartmann, geboren 1885, hätte es sich leicht machen können mit seinen russisch-orthodoxen Weihnachtsliedern, den „Koliadky“. Ukrainische Volksmelodien gibt es zuhauf, sie hätten nur noch passend instrumentiert werden müssen. Doch stattdessen erfindet er sie neu. Er nennt seine „Koliadky“ deshalb „Folklore Imaginaire“, „imaginäre Folklore“.
Eine starke Musik, meint Elan Sicroff. Schon seit einem halben Jahrhundert setzt sich der Pianist für die Musik des 1956 in New York gestorbenen Thomas de Hartmann ein.
Kandinsky und De Hartmann – Malerei trifft auf Musik
Für den männlichen Nachwuchs aus De Hartmanns adliger Familie ist eine Karriere im Militär vorgesehen. Doch Thomas ist musikalisch so talentiert, dass er nebenbei Unterricht beim berühmten Komponisten Anton Arensky nehmen darf.
Später am Konservatorium nimmt ihn Sergej Taneyev unter seine Fittiche. Der Zar höchstpersönlich gestattet ihm schließlich, sich ganz der Musik zu widmen. De Hartmann will seinen ganz eigenen Weg gehen.
Auch für andere Künste wie die Malerei interessiert er sich. Sie liegt der Familie im Blut, immerhin hat sein Großonkel Viktor Hartmann jene Bilder geschaffen, die Modest Mussorgsky zu seinen berühmten „Bildern einer Ausstellung“ inspiriert haben.
Thomas de Hartmann wird mit dem Maler Wassily Kandinsky bekannt. Zwischen den beiden entsteht eine intensive Freundschaft, die buchstäblich abfärbt auf seine Musik.
„Kandinsky hat „Musik gemalt“, kann man sagen; so hat er sich selbst ausgedrückt. Seine Bilder sind sichtbarer Klang. Und De Hartmann? Er hat Klangbilder komponiert.“
Ein Leben zwischen Tiflis, Istanbul, Berlin, Paris und New York
Sein Leben lang ist Thomas de Hartmann auf der Suche nach Erlebnissen und Dingen, an denen er wachsen kann. 1916 lernt er in einem überfüllten Sankt Petersburger Café mit zweifelhaftem Ruf den zweiten Menschen kennen, der sein Leben entscheidend beeinflussen wird. Der Spiritualist Georgi Iwanowitsch Gjurdschijew ist Esoteriker, Schriftsteller, Choreograph und Komponist.
Ein faszinierender und geheimnisvoller Kunstverführer, der Menschen in seinen Bann zieht. Die De Hartmanns folgen ihm viele Jahre lang. Thomas de Hartmann wird Gjurdschijews Klavierbegleiter und Co-Komponist, seine Frau Olga erledigt die Korrespondenz.
Gemeinsam fliehen sie vor den Unruhen und Kriegen in Europa, oft in letzter Minute: Ein ständiges, gehetztes Leben im Exil. Die De Hartmanns verschlägt es nach Tiflis, nach Istanbul, Berlin und Paris.
Als ihnen an der Seine das Geld ausgeht, komponiert Thomas de Hartmann Filmmusik, um über die Runden zu kommen. 1950 lässt er sich in New York nieder. Dort stirbt er sechs Jahre später an einer Herzattacke.
Ein Kaleidoskop an Stilen, Formen und Farben
Um diese attraktiven Werke bekannter zu machen, hat Elan Sicroff das „Thomas de Hartmann Project“ ins Leben gerufen. Elan Sicroff fasziniert De Hartmanns Musik vor allem deshalb, weil sie nicht unbedingt so funktioniert wie die westliche.
„Hartmann erzählt immer eine Geschichte, besonders in seinen größeren Werken. Sie verändert sich ständig, man kann das gut verfolgen. Er komponiert in Episoden. Und trotzdem existiert da ein roter Faden, der dem Stück eine Richtung gibt.“
Musik wieder so aktuell wie nie zuvor
Thomas de Hartmann hat viele kleinteilige Werke geschrieben. Aber manchmal hat er auch ganz groß gedacht. Nichts Geringeres als die Vernichtung der Menschheit durch das Maschinenzeitalter beschreibt er in seiner „Symphonie-Poème“. Ein riesenhaftes Werk voller treibender Rhythmen, die in einem furiosen Finale schließlich alle Hoffnung zermalmen.
1935 ist dieses Werk in Paris uraufgeführt worden. Musik, die in ihren Rhythmen und Farben den russischen Balletten eines Igor Strawinsky sehr nahekommt. Beim Hören wird klar: Ein solches Werk muss in unsere Konzerthäuser. Und auch hier ist wieder ein Trauerton dabei, der typisch ist für De Hartmanns Musik. Es ist die Klage über die verlorene Heimat, die Ukraine. Leider ist sie heute so aktuell wie nie.
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