Jubiläumsfeier bei SWR2
Musikalisches Beben
Der Komponist György Ligeti, der am 28. Mai 2023 100 Jahre alt geworden wäre, hatte als sehr kleines Kind einen Traum: Er war in seinem Kinderzimmer und zwischen ihm und seinem Gitterbettchen war alles mit einem „dünnfaserigen, aber dichten und äußerst verwickelten Gewebe ausgefüllt“.
Er beschrieb Gegenstände, die in dem riesigen Netzwerk hängengeblieben sind: „Jede Regung der steckengebliebenen Lebewesen verursachte ein Beben, dass sich dem gesamten System mitteilte“. Dieser Traum beschreibt Ligetis Musik.
Familie wird Opfer der Nationalsozialisten
Er habe eigentlich eine schöne frühe Kindheit gehabt, meint György Ligeti. Am 28. Mai 1923 wird er im damals rumänischen Siebenbürgen geboren, als Sohn intellektueller, jüdisch-stämmiger Ungarn. Zwar erlebt er schon als Kind den Antisemitismus und darf später als Jude nicht Mathematik studieren, sondern „nur“ Musik.
Die wahre Katastrophe beginnt für ihn mit dem Zweiten Weltkrieg. Der Vater und der Bruder werden in Konzentrationslagern ermordet, er selbst muss für Ungarn kämpfen, überlebt aber, ebenso die nach Auschwitz deportierte Mutter.
Flucht vor der Diktatur
Die frühe Nachkriegszeit erlebt Ligeti dennoch als Aufbruch. Sein musikalisches Idol ist Bartok. Neugierig auf die Avantgarde hört er nachts durch die Störsender hindurch Neue Musik im Westradio.
Nach dem Ungarnaufstand flieht er im Dezember 1956 nach Österreich, denn der Sozialismus war zur Diktatur geworden. Ausgerechnet Österreich und kurz darauf die BRD sind gut 10 Jahre nach der Ermordung von Vater und Bruder in Mauthausen und Bergen-Belsen das Ziel der Flucht. Ligeti antwortet entschieden auf die Frage, wieso er sich ausgerechnet dort niederlässt.
„Ich werde nie das deutsche Volk mit der Nazis identifizieren. [...] Es gibt keine Gruppen, keine Völker, keine Nationen, keine sprachliche Gruppen, die irgendeine Kollektivschuld hätten. Schuld haben die Leute, die das Verbrechen getan haben.“
Durchbruch in Köln
1957–1958 arbeitet György Ligeti im Studio für elektronische Musik des WDR bei Karlheinz Stockhausen. Seinen Durchbruch als Komponist erlebt er mit der Aufführung des Orchesterwerks Apparitions 1960 in Köln.
„Ich wusste, was ich nicht machen will. Ich wusste nur Bartók und Strawinsky – Musik, die ich kannte – das geht nicht weiter. [...] Mir kam diese Idee der statischen Musik.“
ARD-Woche der Musik 2023 Das Ligeti-Experiment
Der Komponist György Ligeti (1923-2006) hätte 2023 seinen 100. Geburtstag gefeiert – sein bahnbrechendes Werk hat nichts von seiner Faszination verloren. Die ARD lässt Schülerinnen und Schüler im Rahmen der Woche der Musik vom 20. bis 26. März 2023 in Ligetis besondere Klangwelt eintauchen. Hier gibt es die Beiträge des SWR im Überblick.
Umkehr zur Tradition
Werke wie Apparitions, Atmospheres und Lontano machen nicht nur in der Neue-Musik-Szene Furore. Der Regisseur Stanley Kubrick untermalt mit Atmosphères den Beginn von 2001: Odyssee im Weltraum.
Die statische Musik macht Ligeti berühmt. Aber sie führt ihn, wie er sich bald eingesteht, in eine Sackgasse. In den Siebzigerjahren komponiert er die Oper Le Grand Macabre. Er wählt nun wieder traditionellere Formen, seinen Ausdruck findet er in der Groteske, in einer Mischung aus Verzweiflung und Komik.
Rechnen und träumen
Ihn faszinieren zudem wieder Rhythmen. Er ist von Musik aus Zentralafrika, aber auch von Uhrwerken und jeglicher Art von Mechanik inspiriert, so zu hören im frühen Werk für 100 Metronome, dem Poème Symphonique, später im Cembalo-Solo Continuum, in Clocks and Clouds und 1985 im Klavierkonzert.
100 Metronome – György Ligeti und die Metronom-Challenge des SWR
György Ligeti vereint Widersprüche. Er interessiert sich für die fraktale Geometrie und komponiert zugleich Traumwelten und Illusionen. Er liebt mehrdeutige Strukturen wie die Zickzack- und andere Muster auf den Strickpullovern, die er gerne trägt. Alles, was eindeutig ist, sagt er, sei ihm fremd. Wiedererkennbar ist er aber vielleicht gerade deshalb.
Ehrenbürger Budapests
Von 1973 bis 1989 ist György Ligeti Professor für Komposition in Hamburg, er erhält bedeutende Preise und gleich nach dem Fall des
Eisernen Vorhangs wird er Ehrenbürger von Budapest. Allerdings bleibt er im Westen. Er stirbt am 12. Juni 2006 in Wien.
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Ligeti 100: Der große Themenabend
Ligeti 100 | SWR2 Themenabend "Ich gehöre nirgends!" – György Ligeti zum 100. Geburtstag
Mit Beiträgen, Gesprächen und viel Musik erinnert SWR2 an einen der zentralen Komponisten und musikalischen Denker des 20. Jahrhunderts. Am Mikrofon: Leonie Reineke
Essay | Ligeti 100 „Die Avantgarde war ein Irrtum“ – György Ligeti aus sieben Perspektiven
Das Leben wie ein Thriller und ein Werk ohnegleichen. Auf einer Hitliste des 20. Jahrhunderts lag sein Orchesterstück „Atmosphères“ weit oben, knapp hinter Elvis. Ligeti war einer der erfolgreichsten Komponisten der Avantgarde, von der er sich indes immer weiter entfernte - allergisch gegen Dogmen und Gruppenzwang nach seinen bösen Erfahrungen im ungarischen Nazi- und Stalinismus-Terror. Und er war äußerst kritisch, sich selbst und anderen gegenüber. Viele Berühmtheiten wurden von den Pfeilen seines Spotts getroffen. Von all dem zeugen nicht zuletzt Ligetis eigenen Schriften.
SWR2 Jetztmusik rewind – Das Klavierkonzert von György Ligeti
Die Zeit rast. Und mit ihr wächst das Repertoire der zeitgenössischen Musik. Im Schatten der Gegenwart erhebt sich ein Berg klingender Historie aus gefeierten, geliebten, gehassten, aber oft auch einfach nur vergessenen Werken. Warum, weiß oft niemand mehr. Die Geschichte der Neuen Musik ist längst nicht geschrieben. In rewind blicken wir zurück. Auf (vermeintlich) Meisterhaftes und auf Musik, die vielleicht nur ein einziges Mal zu hören war. In der dritten Folge sprechen wir mit dem Pianisten Joonas Ahonen über György Ligetis Klavierkonzert.
Ligeti 100 SWR2 Abendkonzert vom 26.5.2023
SWR Vokalensemble
Leitung: Yuval Weinberg
György Ligeti:
Lux aeterna für 16-stimmigen Chor a cappella (1966)
3 Fantasien nach Friedrich Hölderlin für 16-stimmigen Chor a cappella (1982)
Frühe Chorwerke in ungarischer Sprache (1941 - 55)
(darunter Uraufführungen aus dem Nachlass)
Marton Illès:
"Chorrajzok" nach Gedichtfragmenten von Árpád Tóth für 24 Stimmen (UA)
(Konzert vom 25. Mai in der Evangelischen Friedenskirche, Ludwigsburg)
Musikgespräch Visuelle Musik: Wie der Lichtkünstler Laurenz Theinert mit György Ligeti umgeht
„Es war für György Ligeti ein großer Reiz, den Raum zwischen Hören und Sehen zu öffnen“, sagt Laurenz Theinert. Der Stuttgarter Lichtkünstler trat am 23. März im Rahmen der ARD-Woche der Musik mit dem SWR Symphonieorchester auf. Im Gespräch erklärt Theinert, warum sich Ligetis Musik besonders gut für audio-visuelle Experimente eignet und wie das von ihm entwickelte Visual Piano funktioniert.
Musikthema Ligeti to go: Auf den Spuren von György Ligeti in Hamburg und Wien
Am 28. Mai 2023 wäre Ligeti 100 Jahre alt geworden. Reporterin Nina Prasse machte sich auf die Suche nach Menschen, die ihm ganz besonders nahestanden. Sie traf sie in Hamburg und in Wien. An Orten, an denen Ligeti gelebt und gearbeitet hat.