Was ist eigentlich Musik genau? Über diese Frage haben sich schon Generationen und von Musikerinnen und Musikern die Finger wund geschrieben. Jetzt ist eine weitere Hand dazugekommen: Musikjournalistin Carolin Pirich nähert sich dem Thema in „Das Vorspiel“ in 15 lose zusammenhängenden Berichten, unter anderem von Joana Mallwitz, Igor Levit und David Garret.
Vorspiele: So geheim wie eine Papstwahl
Ein Vorspiel kann in der Musik einmal eine komponierte Einleitung sein. Ein Vorspiel kann aber auch über die Karriere eines Musikers oder einer Musikerin entscheiden. Dann heißt es Probespiel.
Ausrichter sind professionelle Orchester, die einen neuen Mitspieler oder eine neue Mitspielerin suchen. Für Carolin Pirich genau wie für mich ein eher undurchsichtiges Verfahren.
„Die Kür eines Musikers ist so geheim wie die Wahl des Papstes – nach innen demokratisch, nach außen unkommentiert. Das Orchester hat abgestimmt, ob eine Journalistin bei diesem Konklave dabei sein darf. Es hat debattiert und schließlich zugestimmt, aber niemand will an diesen beiden Tagen viele Worte verlieren oder gar geschwätzig werden.“
Carolin Pirich such die Magie der Kunstform Musik
Carolin Pirich ist Musikjournalistin. Sie darf beim Probespiel des Konzerthausorchesters mit dabei sein. In ruhigen, mal sachlichen, mal bildreichen Worten beschreibt sie den inneren Zustand dreier Kandidaten vor dem Showdown.
Sie haben sich auf eine Orchesterstelle als Kontrabassist oder Kontrabassistin beworben. Nur einer oder eine bekommt den Job. Dieses Kapitel des Buches liest sich wie ein emotionaler Krimi. Für mich klar der fesselndste Teil des Buches.
In 15 inhaltlich lose zusammengefügten Kapiteln versucht sich Carolin Pirich an die Musik heranzutasten, aus ganz verschiedenen Perspektiven. Sie möchte der Magie dieser Kunstform näherkommen, aber auch deren Schattenseiten offenlegen. Nicht wissenschaftlich-systematisch, nicht allumfassend theoretisch, sondern mit alltäglichen Geschichten und plastischen Bildern.

Beobachtungen über Musik am Rande eines improvisierten Konzerts
„Musik kann man nicht essen, man kann sie sich nicht übers Sofa hängen, man kann sie nicht anfassen. Sie ist da, und dann ist sie auch schon wieder weg. Aber sie lässt etwas zurück. Was ist das mit ihr?“
Diese Frage stellt Carolin Pirich bereits im ersten Kapitel ihres Buches. „Das Konzert“ steht darüber. Die Autorin schildert darin die Rahmenhandlung: ein mehr oder weniger improvisiertes Konzert auf einer Insel im Tegeler See in Berlin. Sie selbst hat es organisiert und muss sich mit allerhand Widrigkeiten und Problemen herumschlagen.
Im Zentrum aber stehen die Musikerinnen und Musiker mit ihren Gedanken, Erfahrungen und Erlebnissen mit der Musik. Neben Stargeiger David Garrett nimmt auch der Pianist Igor Levit ein ganzes Kapitel ein:
„Das Tragische ist: Musik ist flüchtig. Sobald der Pianist die Finger von den Tasten nimmt, ist sie weg. Wie soll er danach noch den Weg zu den Herzen finden? Nach mehr als einem Jahr, in dem ich ihn begleitet habe, stelle ich fest, dass es genau darum geht: um einen Künstler, der sich nicht damit abfinden mag, dass so wenig von seinem Werk bleibt, wenn die Musik verklungen ist.“

Es schimmert immer auch ein Stück Zeitgeist durch
Die Texte für dieses Buch sind in den vergangenen 10 Jahren so oder in veränderter Form bereits in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften erschienen. Ich finde Carolin Pirichs Schreibstil klar, schnörkellos, auf das für sie Wesentliche fokussiert. Das macht die Lektüre auch für musikalische Laien sehr angenehm.
Mit direkter Kritik oder Ironie hält sich die Autorin eher zurück. Neben der Klassik-Prominenz kommen aber auch weniger bekannte Musikerinnen und Musiker zu Wort. So etwa die Dirigentin Joana Mallwitz:
„Als sie das Programm zusammenstellten, wollte Igor Levit, der Pianist, Liszt spielen. Mallwitz suchte dann Schubert dazu aus, seine Unvollendete. Sie ist das Werk, das Joana Mallwitz als Vierzehnjährige mit Bleistift in ordentlicher Schrift einen Satz in die Partitur schreiben ließ: ‚Dies ist meine erste eigene Partitur und hoffentlich auch das erste Werk, das ich später als Dirigentin dirigieren werde.‘“
Das Konzert mit Joana Mallwitz und dem Bayerischen Staatsorchester wird nie stattfinden. Die Corona-Pandemie hat das verhindert. Immer schimmert auch ein Stück Zeitgeist durch Pirichs Annäherungen an die Musik durch.
Spannender Einblick mit Lücken
Trotz aller Vielfalt der Perspektiven: ich vermisse in diesem Buch ein paar Dinge: Von Vokalmusik ist so gut wie gar nicht die Rede, auch nicht vom weiten Feld der Kirchenmusik. Den großen Bereich der Alten Musik streift Pirich nur am Rande. Dafür kommt immerhin die zeitgenössische Musik vor, allerdings nicht etwa aus der spannenden Sicht der Komponistinnen und Komponisten.
Carolin Pirichs Buch bietet dennoch insgesamt einen spannenden Einblick in das Musikbusiness, in das Leben und Tun von Musikerinnen und Musikern und ihre sehr unterschiedliche Beziehung zum so schwer fassbaren Phänomen „Musik“.
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Um erfolgreich Musik zu machen, braucht es neben Talent, Fleiß und Förderung eine stabile Psyche. Der Musiker und Psychologe Daniel Scholz ist Professor für Musizierndengesundheit in Lübeck, sucht Ursachen von Aufrittsangst und Wege zu mehr Selbstlob.
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Rezension von Judith Reinbold,
S. Fischer Verlag, 300 Seiten, 24 Euro
ISBN 978-3-446-26960-6
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Die Dirigentin Joanna Mallwitz, Shooting-Star der deutschen Klassikszene, macht sich große Sorgen um die Kultur: „Wir müssen systemische, spartenübergreifende Lösungen finden, dass wir am Ende nicht vor einem ausgehöhlten Kulturbetrieb stehen“.
Zur Person Der Geiger David Garrett - charismatischer Perfektionist
Stargeiger David Garrett gilt als einer der erfolgreichsten Crossover-Musiker unserer Zeit, und füllt mit seiner Mischung aus Klassik, Rock und Pop riesige Hallen. Geboren in Aachen macht er zuerst Karriere als viel bestauntes geigendes Wunderkind, und studiert dann grundsolide an der New Yorker Juilliard School bei Itzhak Perlman. Danach startet er dann sein eigenes, sehr erfolgreiches Karriere-Konzept mit gigantischen Bühnenshows vor spektakulärer Kulisse