Richard Wagners Einfluss auf die Lebensreformbewegung Ende des 19. Jahrhunderts

Überzeugende Thesen

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AUTOR/IN
Christoph Vratz

Buch-Tipp vom 25.04.2018

Bossard, geboren 1874, war ein Wagnerianer. Für seine Zeichnungen etwa ließ er sich von Richard Wagners Opern inspirieren. In Bossards Nachlass finden sich auch einige unveröffentlichte Schriften, die der emeritierte Politologe und langjährige Wagner-Forscher Udo Bermbach nun gesichtet hat. In einem dieser Texte aus dem Jahr 1925 schreibt Bossard…

Spirituell-geprägtes Ideal

Eine Formulierung, die an Wagners Ausführungen in „Kunst und Religion“ erinnert. Bossard zielt nicht auf eine konfessionell gebundene Religion, sondern auf eine bestimmte Lebensform. Diese Wertschätzung für ein spirituell-geprägtes Ideal, seine Abkehr von allem Gestrigen und die Fokussierung auf eine bestimmende Kraft – das waren, ähnlich diffus formuliert, auch Ziele des „Bayreuther Kreises“ um seinen Chefideologen Houston Stewart Chamberlain, dessen antisemitische und rassistische Ideen ausgerechnet bei Adolf Hitler einen glühenden Bewunderer fanden.

Zwar war Bossard ein Außenseiter, zwar blieben seine Visionen unausgegoren und im Halbgaren stecken, doch sie verraten, wie tief Wagners Ideen und Wirken in Teilen der Gesellschaft Wurzeln schlagen konnte. Diesem Phänomen geht Udo Bermbach in seinem rund 250 Seiten starken Buch nach. Bereits am Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich eine weit verzweigte Bewegung, deren Lebensform eine Reform sein wollte – eine Alternative zur industriellen Gesellschaft. Das Spektrum reichte vom Vegetarismus über den Verzicht auf Alkohol und das Leben in freier Natur bis zur alternativen Medizin.

Bermbach schränkt bereits am Beginn seines Buches ein, dass der Komponist selbst die Bewegung mit ihren differenzierten Ausformungen nicht mehr miterlebt hat. Im ersten Teil fasst Bermbach Wagners zentrale Schriften zusammen. Darin geht es nicht nur um die, später von den Nazis ausgelaugte, Frage: Was ist deutsch? Sondern auch um allgemeinere Möglichkeiten und Fragen der Erkenntnis, beispielsweise in „Heldentum und Christentum“. Diese Schriften erzeugten in einigen Leserkreisen eine nachhaltige Wirkung.

Problematik der Nachweisbarkeit

Das Grundproblem dieses Buches liegt darin nachzuweisen, wie konkret Wagners oft allgemein gehaltene Visionen auf das Bewusstsein der „Reformpropheten“, wie Bermbach die Rezipienten nennt, gewirkt haben. Wagner hat sich fast triebhaft zu allen möglichen Themen geäußert, und natürlich haben seine Ausführungen – irgendwie! – auch Spuren im Umkreis seiner Anhänger hinterlassen. Bermbach weiß um die Problematik der Nachweisbarkeit und ist daher auf eine möglichst stichhaltige Argumentation erpicht. Seine Thesen sind überzeugend. Zu den skizzierten „Reformprojekten“, die wohl direkt von Wagners Denken inspiriert wurden, zählen u.a. die Mathildenhöhe Darmstadt, die Gartenstadt und Künstlerkolonie Hellerau und der Monte Verità:

„Berg der Wahrheit“ - Auch hier entwickelte sich eine Lebensreform-Bewegung mit einem Leben in und mit der Natur. Dass Wagners Erbe dabei eine besondere Rolle spielte, ist den musikalischen Interessen einer der beiden Gründerinnen zu verdanken, der Pianistin Ida Hofmann, die auf dem Monte ganze Wagner-Abende veranstaltete. An diesem Beispiel wird klar: Es gibt eine Reihe von Verbindungen mit und zu Wagner, doch inwieweit seine Schriften die Lebensweise der dortigen Bewohner konkret mitgeprägt haben muss – mangels Quellen – teilweise offenbleiben.

Wagners Kosmos

Das spricht aber nicht gegen Bermbachs Buch, das (auch dank zahlreicher Abbildungen) den Leser auf teils kriminalistische Weise an ungewohnte, teils vergessene Schauplätze und zu Personen führt, die im Dunstkreis Wagners gelebt haben. So entsteht eine Art Forschungs-Anthologie über eine Lebensführung voller Auffälligkeiten und Schrulligkeiten, die von Wagner abgeleitet sind. Einmal mehr zeigt Udo Bermbach in seinem neuen Buch, wie genau er sich im „Kosmos Wagner“ mit all seinen Auswüchsen zurechtfindet.

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Christoph Vratz