Autobiografie des aus Syrien geflohenen Pianisten Aeham Ahmad

Ein bedrückendes Dokument Zeitgeschichte

Stand
AUTOR/IN
Christoph Vratz

Buchkritik vom 11.10.2017

Am Ende, nach mehr als 350 Seiten, heißt es fast lapidar:

Dieses Buch verschweigt nicht, sondern erzählt in anschaulicher, stellenweise schonungsloser Offenheit die Geschichte eines Mannes, der mit Musik Menschen in aussichtsloser Lage Trost gespendet hat, der einem Martyrium entflohen ist und bis heute an die unstillbare Kraft seiner Kunst glaubt. Aeham Ahmad ist Syrer, Sohn eines blinden Instrumentenbauers:

Ahmad erzählt, wie sein Vater auf Hinweis eines Lehrers Geige lernen sollte, und wie dieser Vorschlag vom Großvater abgeschmettert wurde. Eine Geige kostete so viel wie 40 Liter Olivenöl! Außerdem seien Musiker doch nicht mehr als Landstreicher oder Bettler. – Doch Ahmads Vater blieb stur. Von Verwandten lieh er sich das Geld für eine Geige. Später setzt er alles daran, damit auch sein Sohn die Faszination von Musik spüren lernt. Aeham soll sich an der Musikschule bewerben:

Aeham schafft die Aufnahmeprüfung, lernt Klavierspielen und Werke von Czerny bis Beethoven.

Lange Zeit liest sich dieses Buch wie die Erinnerungen eines Menschen, der sich für Musik begeistert, aber in einer Umgebung aufwächst, wo gerade Klassik keine besondere Rolle spielt. Das alles wird sehr plastisch und mit vielen unmittelbaren Bildern erzählt, doch an Brisanz gewinnt dieses Buch erst, als der Terror immer näherkommt.

Aeham Ahmad möchte sich dieser zunehmenden Gewalt nicht beugen. Er schraubt ein verstimmtes Klavier auf einen fahrbaren Untersatz und zieht spielend und singend durch die um ihn herum rasant wachsenden Trümmerberge von Damaskus, begleitet von einer zunehmenden Öffentlichkeit in den sozialen Netzwerken:

Heute kann man sich einige seiner Videos immer noch im Netz ansehen. Aeham erzählt, wie seine Ideen sich langsam entwickelt haben und auch von Zufällen begünstigt wurden:

Die Bedrohung für Aeham wächst, je berühmter er wird. Binnen eines halben Jahres wird er auch außerhalb Syriens zu einer Identifikations-Figur. Das bleibt auch den IS-Schergen nicht verborgen. Aeham muss sein Aussehen verändern und miterleben, wie sein Klavier angezündet wird:

Schließlich gelingt Aeham die Flucht. Über die Türkei und die Balkanroute kommt er im September 2015 nach Deutschland. – Mit der Übersetzerin Sandra Hetzl und dem Journalisten Ariel Hauptmeier hat Ahmad nun seine Geschichte aufgeschrieben. Es ist ein ungemein lebendiges, schockierendes Buch, präzise in seinen Schilderungen und Dialogen. Mag auch das eine oder andere Detail entbehrlich erscheinen, diese Autobiografie berichtet eindrucksvoll von der unerschöpflichen Energie, die Ahmad aus der Musik gewonnen und an andere Menschen weitergegeben hat. Darüber hinaus ist es ein bedrückendes Dokument Zeitgeschichte.

Buchkritik vom 11.10.2017 aus der Sendung „SWR2 Cluster“

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Christoph Vratz