"Kunst der Oberfläche"

Wärmstens zu empfehlendes Buch über die Operette

Stand
AUTOR/IN
Dieter David Scholz

Buchkritik vom 11.11.2015

Die Operette genoss und genießt auch heute noch einen zweifelhaften Ruf. Was allerdings mehr mit Vorurteilen und mit schlechter Aufführungspraxis als der Gattung an sich zu tun hat. Doch seit einigen Jahren ist so etwas wie eine Renaissance der Gattung zu beobachten. Nicht zuletzt an der Komischen Oper Berlin, wo sich Intendant Barrie Kosky für die Operette stark macht. Dort wurde der oftmals verkannten Gattung zu Beginn des Jahres 2015 ein gemeinsam mit der University of Chicago, der Friedrich-Alexander- Universität Erlangen-Nürnberg und der internationalen Fachzeitschrift The Opera Quarterly (Oxford University Press) veranstaltetes, dreitägiges Symposium mit Musik-, Theater-, Kulturwissenschaftlern, Philosophen und Künstlern aus Europa und den USA gewidmet.

Die Ergebnisse der Tagung sind jetzt unter dem Titel "Kunst der Oberfläche. Operette zwischen Bravour und Banalität" als Buch erschienen. Herausgegeben wurde es von den Theaterwissenschaftlern Bettina-Brandl-Risi und Clemens Risi. Mehr dazu von Dieter David Scholz.

Das Phänomen "Oberfläche"

1930 brachte der legendäre Schauspieler, Regisseur und Intendant Eric Charell im Großen Schauspielhaus in Berlin die Operette "Im weißen Rössl" von Ralph Benatzky zur Uraufführung, sie wurde zu einem seiner größten Erfolge. Es ist eine jener Operetten, die der Kultur- und Musikphilosoph Theodor W. Adorno als "abscheuliche Ausgeburten" brandmarkte. Zugegeben: kein tiefgründiges Stück, eher eines, an dem man das Phänomen der "Oberfläche" studieren kann. Doch gerade an den Oberflächenäußerungen könne man, so der Kulturkritiker Siegfried Krakauer, den Grundgehalt einer Epoche und ihrer Kultur erkennen. Die Gattung Operette lebt von der "Oberfläche".

Erfolgsrezept der Mischung aus Banalem und Virtuosem

Was die sogenannte "Oberfläche" ausmacht und der Gattung Operette ihre enorme Popularität beschert, sind Plots, die dicht am Puls der Zeit liegen und Bedürfnisse wie Sehnsüchte des gewöhnlichen Menschen bedienen, aber auch Kritik an bestehenden gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen ermöglichen. Vor allem aber ist es das "Austesten und Übertreten von kulturellen Grenzen, Grenzen des Moralischen und des guten Geschmacks, das diese Oberflächen so reizvoll funkeln lässt". Aber auch "eindeutige sexuelle Anspielungen und Verwirrung der Geschlechterrollen durch Cross-Dressing", gehören zu den genrebestimmenden Ingredienzien der Gattung, so Clemens Risi. Musikalisch ist die Operette höchst originell mit ihren gewagten Montagen von klassischen Opernorchestern mit Jazz-Band und Blaskapelle. Oper, Singspiel, Chanson, Volkslied und modische Tänze der Zeit durchdringen sich. Das Erfolgsrezept der Operette ist die Mischung aus Banalem und Virtuosem.

Harmlose Operetten der Nazizeit ruinierten den Ruf der Gattung

Die Operette war wegen ihrer Nähe zum Publikum und zu aktuellen Trends ein Spiegel der Zeit, und sie war gesellschaftlicher, kultureller und technologischer Seismograph. Aufgrund ihrer subversiven und rebellischen Stoßkraft war sie auf unterhaltsame Weise gefährlich. Kein Wunder, dass all das, was sie auszeichnete, durch die Nazis beendet wurde. Barrie Kosky, Intendant der Komischen Oper Berlin, betont: "Das Jahr 1933 markiert den Wendepunkt, an dem der künstlerischen Durchdringung von Hochkultur und Unterhaltung ein Ende gesetzt wird." Harmlose, kitschige Blut- und Boden-, schließlich Ablenkungs- und Durchhalteoperetten, die in der Nazizeit entstanden, hätten den Ruf der Gattung bis heute ruiniert.

Wie geht man mit jenen Operetten der späten 30er- und 40er Jahre um, die die Gattung verharmlosten, aber bis heute gespielt werden? Soll man die Werke in politisch gute und böse Werke einteilen und gegebenenfalls nicht mehr aufführen? Kevin Clarke empfiehlt die Methode Barrie Koskys, der in seiner Inszenierung von Nico Dostals "Clivia" an der Komischen Oper Berlin, den "Großteil der ideologischen Ladung zur Rolle von Frau und Familie" ironisch brach "durch eine bewusste Drag-Performance des Darstellers der Titelrolle".

Interpreten und Werke sowie Grenzüberschreitungen der Gattung Operette zur Revue und zur Tonfilmoperette kommen zur Sprache in dem 224 Seiten starken Band, der Operettenverächtern wie -verehrern nur wärmstens empfohlen werden kann. Er thematisiert teils gelehrt, teils theaterpraktisch alle wesentlichen Aspekte der schillernden Gattung Operette.

"Operrettung für alle!"

Um die Frage ihrer Aktualität heute geht es im letzten der vier Kapitel des Buches. Am engagiertesten äußern sich Performer der Gruppe Interrobang, die während des Symposiums auftraten. Lajos Talamonti etwa konstatiert: "Nicht die Operette ist aus der Zeit gefallen, nein! Das Zeitgeschehen ist zu einer Karikatur geworden! Die Operette entführte uns einst in surreale Wunderbarkeiten, verhalf uns zu heiterer Ausschweifung, zu Erleichterung durch Selbstironie, hielt uns den Spiegel vor und das, was wir sahen, war ... gutmütig komisch. Wer heute in den Spiegel sieht, erschrickt vor der verhärmten humorlosen Trostlosigkeit, die ihm entgegenblickt. Die sogenannte Gegenwart ist nichts als ein tribales Horden-Bum-Bum."

Die Performerin Verena Unbehaun betont, dass wir die spezifischen Fähigkeiten der Operette „zur kritischen Bloßstellung und Selbstermächtigung ... im Zeitalter des digitalen Kontrollverlustes" mehr denn je brauchen. Ihr Schlusswort ist das des Buches: "Ich plädiere für ... die Rettung durch Operette. Gegen Depression, Langeweile, Stress, Frust, Schlaflosigkeit, Überforderung! Operrettung für alle!"

Buchkritik vom 11.11.2015 aus der Sendung „SWR2 Cluster“

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Dieter David Scholz