Riccardo Chailly – Gespräche über Musik in Buchform

Gespräche über Musik

Stand
AUTOR/IN
Christoph Vratz

Buchkritik vom 19.8.2015

Riccardo Chailly, Musikdirektor der Mailänder Scala sowie Noch-Chef beim Leipziger Gewandhausorchester, übernimmt im Sommer 2016 die Leitung des Lucerne Festival Orchestra; er tritt damit die Nachfolge seines 2014 verstorbenen Lehrmeisters und Freundes Claudio Abbado an. Unabhängig von dieser Personalie erscheint bei Henschel / Bärenreiter ein Band mit Gesprächen, die Chailly mit seinem Landsmann Enrico Girardi geführt hat und erstmals in deutscher Übersetzung vorliegen.

Es ist ebenso bezeichnend wie ungewöhnlich, wenn direkt im ersten Kapitel die Stille in der Musik zum zentralen Thema erkoren wird: Zum einen weil jede Musik aus der Stille erwächst (und eben auch dieses Buch einen Anfang braucht), zum anderen weil die Bedeutung von Stille im Allgemeinen und von Pausen im Speziellen zu den nur selten thematisierten und doch ganz zentralen Fragen eines jeden Musikers zählen.

Bevor sich das Gespräch zwischen dem Musikkritiker Enrico Girardi und dem Dirigenten Riccardo Chailly über die Vertonung von Stille ins Allgemeine verflüchtigen könnte, wird Chailly am Beispiel von Olivier Messiaen konkret:

Vier thematische Blöcke und ein Anhang bilden die Architektur des knapp 200 Seiten umfassenden Buches: „Musik und Leben“ ist eine Art Einführung, in „Biografie einer Leidenschaft“ stehen Chaillys Werdegang und einige schicksalhafte Begegnungen im Fokus; „Der Fingerabdruck der Partitur“ beleuchtet die Rolle des Dirigenten auf dem Podium – allein vor einem Orchester und die Zusammenarbeit mit namhaften Solisten. Im längsten Abschnitt, „Musik als Begegnung“ geht es um einzelne Komponisten, von Bach bis Boulez, von Mozart bis Nono und schließlich um Chaillys Auffassung von Opernregie:

Es liegt in der Natur von Gesprächsbänden, dass man immer wieder auf allgemeingültige Sätze wie diese stößt. Sie sind fast austauschbar, weil sie sich, so oder minimal abgewandelt, auch in Büchern anderer Musiker finden lassen. Das ist nicht grundsätzlich zu kritisieren, denn es lässt sich kaum vermeiden. Die Frage ist aber, ob und inwieweit dieses Buch über solche Standards hinausgeht. Und das ist, stellenweise zumindest, der Fall: Da sind zum einen die sehr persönlichen Erinnerungen, etwa wenn Chailly erzählt, wie er als ungefähr Elfjähriger im Zuschauerraum erstmals eine Probe verfolgte, oder wenn er von den entscheidenden Impulsen berichtet, die er in Kursen bei Franco Ferrara erfahren hat – all das gleicht einer lebendig erzählten Autobiographie, anschaulich und unmittelbar wie filmische Sequenzen im Zeitraffer. Da sind aber auch die Bekenntnisse eines inzwischen erfahrenen Musikers, der erklärt, wie es ihm beispielsweise gelingt, höchste Präsenz und Kontrolle gegenüber dem Orchester zu zeigen:

Zu den Blicken kommen natürlich die Gesten der Hände. Chailly betont, wie wichtig es ist, als Orchesterleiter in all seinen Bewegungen authentisch zu sein und damit gleichzeitig auch dem Publikum eine Interpretations- und Verständnishilfe anzubieten. – Als Leser möchte man mehrfach nachfragen und alles noch genauer wissen: Wie etwa drückt Chailly bestimmte Stimmungen – Wut, Erhabenheit oder Trost – aus, welche Gesten wiederholen sich immer wieder, welche sind neu und spontan, wie schnell verstehen ihn die Musiker und setzen seine Zeichen um?

Manche Kapitel bleiben also insgesamt etwas knapp und oberflächlich, so der Abschnitt, in dem Chailly über die Entstehung von CD-Produktionen spricht, oder wenn es um die Zusammenarbeit mit den Solisten geht. Letzteres gleicht mehr einem karteikartenartigen Abarbeiten großer Namen, von A wie Arrau bis Z wie Zimerman; hier hätte man sich konkretere, weiter führende Einblicke erwartet. Ambivalent fällt auch das Fazit zu den „Komponisten-Kapiteln“ aus. Die Aussagen zu Bach bestehen vor allem aus eigenen Erinnerungen an Konzertbesuche und Einflüsse durch andere Dirigenten. Bei Beethoven wird es dann aussagekräftiger:

Das Beethoven-Kapitel ist erfreulich ausführlich und anregend – passend zu Chaillys aufwühlenden Beethoven-Einspielungen mit dem Leipziger Gewandhausorchester. Ähnlich aufschlussreich sind die Gedanken, die er zu Mahler und zu Verdi äußert. Stellenweise beißt man sich als Leser richtig fest, wenn Chailly zwischen eigenen Beobachtungen und den Ansichten berühmter Kollegen hin- und herwechselt.

Unter dem Strich enthält dieses Buch neben vielen Erinnerungen teils tiefe Einblicke in Riccardo Chaillys Arbeitsethos als Musiker – Einsichten, die man sich allerdings oft noch präziser, noch thesenfreudiger gewünscht hätte. Das abschließende Register erleichtert das Nachblättern oder gezielte Suchen.

Buchkritik vom 19.8.2015 aus der Sendung „SWR2 Cluster“

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AUTOR/IN
Christoph Vratz