Publikation zur Rezeption von Richard Wagner

Mangelnde Differenziertheit

Stand
AUTOR/IN
Dieter David Scholz

Buchkritik vom 12.8.2015

Wagner und kein Ende. Auch 2015 ist, rechtzeitig zur Bayreuther Festspielzeit, eine Publikation erschienen, die sich mit der komplizierten Wagner-Rezeption beschäftigt. Der Wirtschafts- und Sozialgeschichtler Hubert Kiesewetter bringt die rassischen Ideologien von Richard Wagner und Adolf Hitler in engen Zusammenhang.

Hubert Kiesewetter lässt es an jener Differenziertheit mangeln, die etwa Udo Bermbachs Chamberlain-Buch auszeichnet, und schlägt stattdessen wieder einmal in jene Kerbe der Rückschau aus der Perspektive Hitlers – jener moralisierenden wie zu kurz greifenden Ahnherrentheorie, die eine direkte Linie von Wagner zu Hitler zieht. Er ignoriert den für die Wagner-Rezeption so typischen Prozess der Verfälschung durch selektive Wahrnehmung und Vereinnahmung. Nur indem Hitler und die Seinen wesentliche Aspekte Wagners ausblendeten, ja ignorierten, konnten sie ihn benutzen.

Es sei daran erinnert, was der israelische Historiker Jakob Katz schon in seinem 1985 erschienenen, sehr lesenswerten Buch „Richard Wagner. Vorbote des Antisemitismus“ (das Kiesewetter nicht zu kennen scheint) anmahnte. „Die Deutung Wagners aufgrund der Gesinnung und der Taten von Nachfahren, die sich mit Wagner identifizierten, ist ein unerlaubtes Verfahren.“ Es handelt sich „... um eine Rückdatierung, ein Hineinlesen der Fortsetzung und Abwandlung Wagnerscher Ideen durch Chamberlain und Hitler in die Äußerungen Wagners selbst“. Hubert Kiesewetter kann noch so sehr auf den Unterschied zwischen „individueller Subjektivität und transpersonaler Objektivität“ pochen (der im übrigen jeder Spekulation Tür und Tor öffnet). So unabsehbar folgenreich die Wirkung Wagners im 20. Jahrhundert war, und so groß verständliche Vorurteile und berechtigtes Unbehagen an Wagner auch sind: Wer eine direkte Linie von Wagner zu Hitler zieht, macht es sich zu einfach!

Hitlers Antisemitismus schöpfte denn doch aus noch viel trüberen Quellen. Außerdem war der Wagnersche Antisemitismus in sich brüchig, widersprüchlich und stand teilweise im krassen Gegensatz zum aufkommenden Rassenantisemitismus seiner Zeit, mehr noch zu dem der Nazis. Kiesewetter ignoriert all dies und wirft denjenigen, die die komplizierte Wagner-Rezeption angemessen darstellen, vor, sie würden Wagner entschuldigen wollen. Mitnichten! Wenn man heute Wagner und seine Wirkung differenziert betrachtet, wird damit keineswegs Reinwaschung, „Entsühnung oder gar Erlösung praktiziert, was undenkbar wäre, sondern“ nur „historische Gerechtigkeit geübt“, um mit dem Wagner-Kenner Hans Mayer zu reden.

Buchkritik vom 12.8.2015 aus der Sendung „SWR2 Cluster“

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Dieter David Scholz