Johann Sebastian Bach, Gravur aus dem 19. Jahrhundert (Foto: IMAGO, Leemage)

300 Jahre Bach in Leipzig

Best of Bach-Kantaten – Reinhard Goebel stellt seine Favoriten vor

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Reinhard Goebel
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Dominic Konrad
Sebastian Kiefl

Vor 300 Jahren, am 30. Mai 1723, tritt Johann Sebastian Bach sein Amt als Kantor der Leipziger Thomaskirche an. Das Komponieren von Kantaten gehörte seitdem zu seinen wichtigsten Dienstpflichten – für den Gottesdienst, aber auch für weltliche Anlässe. Bach-Experte Reinhard Goebel hat seine persönliche Top 5 ausgewählt und stellt sie in SWR2 Treffpunkt Klassik vor.

Johann Sebastian Bach, Statue vor der Thomaskirche (Foto: IMAGO, Panthermedia)
Johann Sebastian Bach war nur die dritte Wahl für den Posten des Thomaskantors in Leipzig. Der Rat der Stadt wollte eigentlich Georg Philipp Telemann für den Posten.

Insgesamt 200 Kantaten schrieb Johann Sebastian Bach, drei Viertel davon sind in seiner Zeit als Kantor der Leipziger Thomaskirche entstanden.

Reinhard Goebel ist Dirigent, leidenschaftlicher Anhänger einer historisch informierten Aufführungspraxis und Experte für Bachs Werke. In SWR2 Treffpunkt Klassik präsentiert er sein ganz persönliches Best-of der Kantaten des großen Komponisten des deutschen Barock.

„Schwingt freudig euch empor“ (BWV 36): Bachs Musik und die Sinnlosigkeit der Texte

Ein riesiges Arbeitspensum hatte Bach in seinen ersten Leipziger Jahren. Er komponierte im Wochentakt neue Kantaten, um sich ein solides Fundament an Werken für die Gottesdienste zu schaffen. Bis 1728 hatte er sich einen „erklecklichen Vorrat an geistlichen Stücken“ angeeignet, erklärt Reinhard Goebel.

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Bei aller Kompositionswut deutete Bach sein bestehendes Kantaten-Arsenal auch gerne um. „Schwingt freudig euch empor“ war zunächst ein weltliches Stück und mehrfach geistlich und dann wieder weltlich umgedeutet. Ein schönes Beispiel, findet Goebel, für die eher neutrale Haltung Bachs zu den Texten.

Über eine Frage streitet die Musikwissenschaft immer wieder: Wurden die Chöre in Bachs Kantaten von Chören gesungen oder doch eher von einem Solisten-Quartett? In Köthen oder Weimar wäre ein voller Chor wohl alleine schon aus Platzgründen schwierig gewesen, glaubt der Bach-Experte, doch die Thomaskirche bot dem Komponisten ganz andere Möglichkeiten.

„Jauchzet Gott in allen Landen“ (BWV 51): Kein Platz für Frauen

Reinhard Goebel betrachtet das Faksimile der Originalpartitur von „Jauchzet Gott in allen Landen“. Bach überschreibt das Werk mit „Cantata“, nicht wie seine sonstigen kirchlichen Werke mit „Concerto“. Das ist erstaunlich, findet der Bach-Experte. Nicht zuletzt, da die Kantate „in ogni tempore“, zu jeder Zeit, gespielt werden könne – außer vielleicht am Karfreitag.

Die Trompete setzt Bach nahezu gleichberechtigt duettierend neben den Sopran. Ob die eine Stimme die andere runterzieht oder sie sich gegenseitig erheben, fragt sich Dirigent Goebel.

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Unklar ist auch, für wen und aus welchem Anlass Bach die Kantate schrieb. Leipzig war zu seiner Zeit die Hochburg der lutherischen Orthodoxie, erklärt Goebel, und Frauen war es in aller Regel nicht gestattet, in der Kirche zu singen.

Der Bach-Experte mutmaßt, es könne sich um eine semi-weltliche Kantate handeln. Bachs Frau Anna Magdalena habe sie womöglich bei der Uraufführung gesungen, begleitet von ihrem Bruder, dem Hoftrompeter Johann Caspar Wilcke.

„Bleib bei uns, denn es will Abend werden“ (BWV 6): Bach stellt die Oboe da caccia vor

Bach komponiert „Bleib bei uns, denn es will Abend werden“ für den zweiten Ostertag 1725. Die Kantate steckt voller Details, man könnte eine ganze Woche darüber erzählen oder ein ganzes Buch füllen, meint Reinhard Goebel.

Johann Sebastian Bach stand bei seinen Kompositionen vor der Herausforderung, die Musik so modern wie möglich zu gestalten, damit ihm nicht die Gottesdienstbesucher ausblieben, „doch durften die Kantaten vor lauter Kunstfertigkeit auf keinen Fall blasphemisch sein.

Es bedurfte genauer Überlegung bei der Komposition: Wie lege ich ein Werk an, was nehme ich mit rein, was lasse ich außen vor?

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In BWV 6 wird das Orchester in zwei Gruppen strukturiert. Eine Neuheit in BWV 6 ist die Oboe da caccia. Bachs Vorliebe für diese Oboe zeigt sich bei späteren Aufführungen, denn während sie 1725 noch die dritte Stimme übernimmt, ersetzt Bach bei einer späteren Fassung die Solo-Bratsche in einer Arie durch die Oboe da caccia.

„Ich habe genug“ (BWV 82): Populäre Solokantate mit strittigen Tempi

„Ich habe genug“ ist eine von Bachs bekanntesten Kantaten. Nicht zuletzt auch, weil sie leicht aufführbar ist, meint Reinhard Goebel. Nur elf der 200 Bach-Kantaten sind Solo-Kantaten. Diese Baritonkantate, die Bach 1727 als Thomaskantor schrieb, sollte er in späteren Jahren mehrfach hervorkramen und bearbeiten.

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Schwierigkeiten bereiten Dirigentinnen und Dirigenten häufig die Tempi, urteilt der Bach-Experte: Vivace bedeute nicht „prestissimo“. In Bachs Zeit lag die Tempoangabe eher zwischen Andante und Allegro.

Die Entstehung der Kantate ist wahrscheinlich Bachs Planung von Personalkapazitäten zu verdanken, meint Goebel. Der Thomaskantor plante vorausschauend seine Solisten. Zum Zeitpunkt der Uraufführung studierte Bach seine Matthäuspassion ein. Die Wahrscheinlichkeit sei groß, dass der Jesus der Passion auch der Solist der Kantate gewesen sei.

„Hochzeitsquodlibet“ BWV 524: Vermeintlich spontanes musisches Beisammensein

Vergessen wir zum Abschluss des Best-ofs die Kantaten, meint Reinhard Goebel und stellt statt dessen das 1707 komponierte sogenannte „Hochzeitsquodlibet“ von 1707 vor. Das fragmentarische Werk soll, so will es die Tradition, von Bach zu seiner eigenen Hochzeit mit seiner Cousine Maria Barbara komponiert worden sein.

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Quodlibet ist lateinisch und bedeutet soviel wie „Was euch beliebt“. Es ist eine vermeintlich zusammenhanglose Ansammlung an Texten mit einer vermeintlich ebenso zusammenhanglos komponierten Musik, erklärt der Bach-Experte. Das Werk zeichnet den 1685 geborenen Bach als einen Mann des 17. Jahrhunderts aus, so Goebel, denn im 18. Jahrhundert war die Vertonung solcher Texte nicht mehr „comme il faut“.

Wahrscheinlich wurde das Stück von nicht-professionellen Sängerinnen und Sängern aus der Familie Bach bei Bier und Pfeife dargebracht. Auch für seine eigene Einspielung vor 25 Jahren habe er einen sorgsam geprobten Eindruck vermeiden wollen. So sind auch Lacher und spontane Einfälle mit in diese sehr persönliche Aufnahme geflossen.

Musikgespräch Nur dritte Wahl vor 300 Jahren: Bach wird Thomaskantor

Heute vor 300 Jahren führt Johann Sebastian Bach seine erste für Leipzig komponierte Kantate auf. Bach-Experte Andreas Bomba über den Alltag von Bach und dessen Motivation, nach Leipzig zu ziehen.

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