Marcel Proust und Reynaldo Hahn

Eine Freundschaft in Briefen

Stand
AUTOR/IN
Christoph Vratz

Buch-Tipp vom 26.9.2018

Wenn man dieses Buch aufschlägt und die unterschiedlichen Anredeformen liest, dürfte den Leser Verwunderung beschleichen. Wer schreibt so? Wer ist gemeint? Lange Zeit und sehr oft haben Marcel Proust und Reynaldo Hahn einander mit Kosenamen angeredet. Namen, die wie eine Geheimsprache wirken und die erst dann Sinn machen (oder zumindest einen Sinn andeuten), wenn man Stellen liest wie diese:

Kunstsprache mit eigener Orthographie

Was für ein Kauderwelsch – meint man. Es ist eine Art Kindersprache, in der Proust, der Schriftsteller, und Hahn, der Komponist, miteinander kommunizieren, oder anders gesagt: eine Kunstsprache, bewusst kindlich, mit einer eigenen Orthographie und pseudomittelalterlichen Wort- und Syntaxverdrehungen – all dies sind zugleich Hinweise einer geradezu zärtlichen Zuneigung. Im Frühjahr 1894 begegnen sich der neunzehnjährige Reynaldo Hahn und der rund vier Jahre ältere Marcel Proust zum ersten Mal. Beide lieben eine Welt der élégance und des künstlerischen und intellektuellen Raffinements. Hahn gilt als Wunderkind, macht Karriere (zumindest phasenweise) als Dirigent und als einer der führenden Komponisten von Liedern und der neueren französischen Operette.

Ein ungleiches Paar

1895 reisen Hahn und Proust gemeinsam in die Bretagne, danach kommt es offenbar zu Verstimmungen: Hahn, der ewig reiselustige Freigeist, und Proust, der Besitzergreifende und durch sein Asthma zunehmend ans Bett Gefesselte – ein ungleiches Paar. Dennoch schreiben sie einander bis kurz vor Prousts Tod 1922 immer wieder Briefe. Dass sie auch intensiv über Theater und Musik korrespondiert haben dürften, versteht sich von selbst. Leider lässt sich dies jedoch nicht mehr in gewünschtem Maße nachvollziehen, da Prousts Schwägerin einen Großteil des Nachlasses dem Feuer übereignet hat. Von daher sind viele Briefe Hahns an Proust für immer verloren, was umso bedauerlicher ist, als der Musiker bis zu Prousts Tod einer der engsten Vertrauten des Schriftstellers blieb – und zugleich dessen wichtigste Informations-Quelle, nachdem Proust das Bett kaum mehr verlassen konnte. Es ist außerdem anzunehmen, dass Proust sein musikalisches Fachwissen (sei es zur Musikgeschichte oder zur Kompositionstechnik) größtenteils von Hahn erhalten hat.

Selten geht Proust direkt auf die Kompositionen von Reynaldo Hahn ein wie hier im April 1907 auf die Ballett-Suite „Beatrice d’Este“:

Man begegnet in diesem Briefwechsel immer wieder Komponistennamen, die man auch aus Prousts Roman her kennt: Beethoven, Wagner, Debussy, aber auch Saint-Saëns. Man liest auch über Massenet, Hahns früherem Lehrer:

Musik als Grundmotiv

Hahn liebte vor allem französische Komponisten wie Massenet, Gounod und Saint-Saëns, er besaß Vorbehalte gegenüber Debussy, Wagner und Strauss. Bei Proust waren die Vorlieben andere. Für den Schriftsteller bestand das Wesen der Musik allgemein darin, die menschliche Seele zu rühren, wo andere Disziplinen versagten. Damit meinte Proust andere Künste und vor allem die Wissenschaft.

Dieser Briefwechsel deutet unterschiedliche Auffassungen zur Musik in Teilen an. Einer ernsthaften, tiefergehenden Auseinandersetzung entgehen die beiden Briefeschreiber durch eine Fülle von Anspielungen und Bezügen, die dem Leser glücklicherweise dank der glänzenden Anmerkungen durch Herausgeber Bernd-Jürgen Fischer verständlich gemacht werden. Es sind Dokumente voller Abkürzungen, Neckereien, Umschreibungen und Geheim-Codes – mit der Musik als häufigem Subtext, die zum Grundmotiv zweier Menschen wurde, die sich zueinander hingezogen fühlten, und doch wohl auch Distanz brauchten…

Buch-Tipp vom 26.9.2018 aus der Sendung SWR2 Treffpunkt Klassik

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Christoph Vratz