Opernkritik | Uraufführung von "Erdbeben.Träume" in Stuttgart

Musikalisches Endspiel

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AUTOR/IN
Reinhard Ermen
Reinhard Ermen (Foto: SWR, SWR -)
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Jennifer Gruppenbacher

Diese Opernpremiere an der Staatsoper Stuttgart wurde mit Spannung erwartet: Es war die letze der aktuellen Spielzeit und die letzte der Intendanz von Jossi Wieler, der zusammen mit seinem Dramaturgen Sergio Morabito auch zum letzten Mal inszenierte. Die musikalische Leitung hatte Generalmusikdirektor Sylvain Cambreling, der Stuttgart zum Ende der Spielzeit ebenfalls verlassen wird. Und was hatte man sich vorgenommen? Na klar, eine Uraufführung und zwar von Toshio Hosokawa.

Das Erdbeben kommt im rechten Augenblick: Es rettet Josephe vor der Vollstreckung des Todesurteils und Jeronimo vor dem Selbstmord. Vorangegangen war der Sündenfall zweier Liebender, der im Jahr 1647, in dem Kleists Novelle spielt, tödlich sein musste. Doch nach dem illusorischen Glück in einer kurzen utopischen Zwischenzeit, holt der tief sitzende Groll einer dumpfen Masse die beiden wieder ein. Sie werden gelyncht. Ihr Kind überlebt dieses zweite, soziale Beben. Zwei Andere werden es statt den Eltern aufziehen.

Aus der Sicht eines traumatisierten Kindes

Marcel Beyer, der außer dem Georg-Büchner-Preis auch schon den Kleist-Preis erhielt, hat die „unerhörte Begebenheit“ als Libretto fit gemacht. Er verkantete das Stück auch mit trotzigem Mutwillen in der Gegenwart. Die Monumentalität des Gleichnisses über die zwei Ansichten eines Gottesurteils verschwindet zugunsten eines gesellschaftlichen Dekors, das der Autor mir launigen Sprüchen und lyrischen Glückstreffern im Irgendwo von Hier und Jetzt verortet.

Erzählt wird die Geschichte hier aus der Perspektive von Philipp, dem Sohn, der in die Traumwelt der Oper eintaucht, um zu erfahren, wie es damals war. Dieser Grenzgang wurde vom japanischen No-Theater inspiriert. Der stumme Knabe, dargestellt von Sachiko Hara, sieht die Welt aus einer quasi surrealen Perspektive.

Wunderbar transparente Musiksprache

Der Komponist des Werks, der 1955 in Hiroshima geborene Toshio Hosokawa, ist ein Wanderer zwischen Ost und West. Er kennt keine Scheuklappen: Japanisch anmutende Wendungen mischen sich schon mal mit choraligen Klängen. Hosokawa, der bei Isan Yun in Berlin und bei Klaus Huber in Freiburg studiert hat, schreibt mit einer wunderbaren Transparenz. Manchmal liegen die Töne bei ihm auf der Goldwaage, wenn er etwa eine Gesangsszene mit ganz wenigen Begleitinstrumenten stützt oder einfach nur (tönend) die Zeit anhält.

Das ist bei allem europäischen Einfluss ein Tonfall, der eher japanische Tuschemalerei meint als das zentraleuropäische Operntheater, dem Hosokawa im Sinne des No-Theaters freilich eine Art angeborenen Traummodus zuschreibt. Die vokalen Linien erscheinen gelegentlich etwas konventionell, die Balance zwischen gesprochenen, von Sängern aufgesagten Verlautbarungen und Gesang wirkt etwas unglücklich. Bedeutsamster Teil seiner Partitur sind die drei „Orchestermonologe“. Der erste, überschrieben mit „Erdbeben Tsunami“ meldet sich als Nummer 7 nach etwa einer halben Stunde. Bei Kleist bebt die Erde bereits im allerersten Satz!

Arbeitsbesuch in Fukushima

Im Nachbeben heben sich auf der Bühne sanft die Podien, wie in einer Zeitlupe, Textilien sind vom Himmel gefallen, der Chor wirft die Kleider ab. Menschen in Unterwäsche sind wahrhafte Elendsgestalten.

Ohnehin hat das eigentliche Beben schon stattgefunden, bevor sich der Vorhang hebt. Das Team hat einen Arbeitsbesuch in Fukushima gemacht. Den Übergangsraum einer notdürftig zusammen geschobenen Welt hat die Bühnenbildnerin Anna Viebrock von da mitgebracht. Sie arbeitet mit maroden Architekturresten und Andeutungen in Beton. Der Schauplatz besteht aus Abgründen und Fallen, in die der gewandte Träumer Philipp schon mal wie ein Fisch eintaucht. Zum Schluss verschwindet der Suchende hinter einer Maske. Jossi Wieler und Sergio Morabito inszenieren ein Endspiel, das beziehungsreich die anderen Zeitmaße der Musik befragt.

Keine Gesangsoper

„Erdbeben Träume“ ist keine „Gesangsoper“. Die Solisten sind Teil des katastrophischen Ornaments, am eindrucksvollsten die beiden Alten Sophie Marilley und André Morsch. Der Chor leistet Außerordentliches. Sylvain Cambreling hat sich das Stück zu Eigen gemacht!

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Reinhard Ermen
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