Album-Tipp

„Birds with Roots“: Jüdische Musik zwischen Heimat und Zerrissenheit

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Thilo Braun
Thilo Braun (Foto: SWR, © Anna Jaissle)
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Dominic Konrad

Heimat ist für viele Menschen ein positiver Begriff. Aber wenn einen Kriege, Armut oder Verfolgung dazu zwingen, die eigene Heimat zu verlassen, kann der Begriff mit schmerzhaften Erinnerungen verknüpft sein. Diese Zerrissenheit drückt der Titel „Birds with Roots“ (Vögel mit Wurzeln) aus. Ein neues Album, das ein Trio um den Pianisten Jascha Nemtsov aufgenommen hat.

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Lieder von Brahms treffen auf jüdische Positionen 

Diese Vertonung von Rückerts Gedicht „Gestillte Sehnsucht“ ist vermutlich das berühmteste Werk für die Trio-Besetzung Singstimme-Viola-Klavier. Dass Pianist Jascha Nemtsov es mit Sopranistin Tehila Nini Goldstein und Bratschistin Julia Rebekka Adler aufgenommen hat, ist daher nicht unbedingt überraschend.

Und doch wirkt es im Zusammenhang des Albums anders als sonst – denn die Musiker haben es Werken jüdischer Komponisten gegenübergestellt, die die Themen Heimweh, Flucht und Vertreibung verhandeln. Auf einmal zeigt sich: Wenn Brahms von Sehnsucht und Wehmut spricht, ist das ein ästhetisches Sinnieren.

Johannes Brahms: „Gestillte Sehnsucht“

Janot Roskins Jiddische Lieder zeugen vom drohenden Antisemitismus

In den „Drei Jiddischen Lieder“ von Janot Roskin, die darauffolgen, geht es dagegen ums nackte Überleben.

„Auf einer kleinen zerbrochenen Fiedel habe ich meine Welt aufgespielt“

Anfang des 20. Jahrhunderts vertont der Kantor Janot Roskin in Berlin diese Zeilen von Abraham Reisen. Erste Pogrome in Osteuropa schüren die Angst auch in Deutschland, der Antisemitismus nimmt zu. Sopranistin Tehila Nini Goldstein und Bratschistin Julia Rebekka Adler machen diese Bedrohungslage hörbar, schwanken zwischen Kraftlosigkeit und Klage, sehnsuchtsvoller Süße und Lethargie. 

Komponist Janot Roskin ist 1936 in die USA geflohen und damit nur haarscharf dem Tod entronnen. Eine zerstörte alte Heimat lässt sich jedoch nicht einfach ersetzen.

„überAll“, erster Teil des Liederzyklus „Hinaus“ von Walter Zimmermann

Welt-Ersteinspielung von Walter Zimmermanns Liederzyklus

„Mein Haus steht überall, gehört zum All, zu jenem Raum, in dem nur Klänge schweben“

Diese Zeilen von Michail Lermotow eröffnen den Liederzyklus „Hinaus“ des zeitgenössischen Komponisten Walter Zimmermann. Es ist eine von drei Welt-Ersteinspielungen auf diesem Album. 

Die Kunst wird darin zum metaphorischen Haus, in dem das lyrische Ich eine Heimat finden kann – einerseits klingt das schön. Aber ist die Kunst womöglich die einzige Heimat, die noch geblieben ist?

Diese Interpretation legt die Musik nahe, denn sie drückt vor allem Fremdheit aus. Es gibt kein harmonisches Zentrum, keinen klaren Puls, nur abgetrennte, nebeneinanderstehende Einzeltöne und Melodiefragmente.

„Hinaus!“ aus dem Liederzyklus von Walter Zimmermann

Jascha Nemtsov spricht russische Lyrik von Michail Lermotow

Das dritte Lied „Hinaus!“ ist ein Duett für Klavier und Viola, durch das unruhige Motive jagen wie Gedanken durch einen sorgenvollen Kopf. Am Ende rezitiert plötzlich eine Männerstimme russische Lyrik:

„Lieber verkommen in Stürmen und Blitzen (…) als länger hier sitzen“

Diesen Text von Lermontow spricht Jascha Nemtsov in der Aufnahme selbst. Der Pianist, Inhaber des europaweit einzigen Lehrstuhls für jüdische Musikgeschichte, kam als junger Mann als sogenannter Kontingentflüchtling aus St. Petersburg nach Deutschland.

Sarah Nemtsov: „Nacht“ aus dem Zyklus „Heimwehgefiedert“

Sarah Nemtsovs Zyklus „Heimwehgefiedert“ ist auf dem Album ihres Mannes zu hören

Auch Nemtsovs Frau Sarah hat einen Liederzykus zu diesem Programm beigesteuert: „Heimwehgefiedert“. Sie hat Gedichte vertont, die Hilde Domin, eine deutsch-jüdische Lyrikerin, im Exil verfasst hat.

Brachiale Klavierschläge unter einer gequälten Singstimme: Das Lied „Nacht“ bildet den emotionalen Tiefpunkt in Sarah Nemtsovs Komposition. Hilde Domin vergleicht das lyrische Ich im Gedicht mit Treibholz, das hilflos und nutzlos vom Schicksalsstrom fortgerissen wird. Die traumatischen Erfahrungen haben sogar den Glauben an ein Leben nach dem Tod geraubt – alles, was bleibt, ist Schmerz. 

Hoffnungsvoll trotz Heimatlosigkeit

Durch die intime Interpretation aller Musiker und die kluge Werkzusammenstellung zeichnet das Album „Vögel mit Wurzeln“ ein musikalisches Portrait heimatloser Menschen, das wohl niemanden kalt lässt.

Dabei schafft es die Musik zugleich, Hoffnung zu spenden. Denn die Werke zeigen auch Auswege aus der Verzweiflung – etwa durch menschliche Begegnungen. „Keiner trägt das Leben allein“, heißt im Lied „Immer kreisen“ von Sarah Nemtsov. Sie hat diese Verse in ihrer Widmung zitiert und dazugeschrieben: „Für Jascha – in Liebe“.

Künstlerinnenbiografien Zwischen Wiener Bürgertum und Verfolgung: Andrea Schwabs Buch „Jüdische Komponistinnen“

Bereits seit ihrer Zeit als Gesangsstudentin beschäftigt sich Andrea Schwab mit den Werken verfolgter jüdischer Komponistinnen. In ihrem Buch „Jüdische Komponistinnen“ erinnert Schwab an Leben und Werk von elf bedeutenden Komponistinnen und zeichnet ein Bild von den Lebensumständen vom Ende des 19. Jahrhunderts bis nach dem Zweiten Weltkrieg.

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Jiddisch war für Jahrhunderte die Muttersprache der osteuropäischen Jüdinnen und Juden, einer Welt, die mit der Shoah untergegangen ist. Das Jiddische aber hat überlebt.

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