Glosse

Wie man Komponist und glücklich dabei wird: Ein Brief von Gordon Kampe

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Gordon Kampe

Gordon Kampe hat es geschafft. Er gehört zu den häufig aufgeführten Komponisten und hat eine Professur für Komposition in Hamburg. Aber der berufliche Alltag eines Komponisten kann sehr prosaisch sein, erklärt er in seinem „Brief an junge Komponistinnen und Komponisten“. Misserfolge sind danach an der Tagesordnung und romantische Vorstellungen von einem Leben für die Kunst völlig deplatziert.

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Liebe junge Komponistinnen und Komponisten,

es ist schrecklich. Was ich alles hätte werden können, mit meinem Abitur! Orthopäde zum, Beispiel. Ich würde jetzt vielleicht Nano-Roboter entwickeln und die Menschheit retten. Aber ich… ich habe aber nun, ach, Komposition studiert mit heißem Bemühn.

Heiße Diplom-Musiker, heiße Doktor und neuerdings Professor gar und ziehe mittlerweile schon vier Semester herauf, herab und quer und krumm, meine Studierenden an der Nase herum.

Belauschen der Wellen auf einsamen Strandspaziergängen eher selten

Wenn Ihr nun womöglich auch Komposition studiert, so ist eines gewiss: Ihr werdet nicht sehr oft unter Bäumen sitzend auf Inspiration warten, ihr werdet nicht auf langen, einsamen Strandspaziergängen allein den Wellen lauschen und dann die Erlebnisse mit Opas Füllfederhalter auf selbstgebleichtem Büttenpapier einritzen.

Nächtlicher Nahkampf mit dem Notensatzprogramm

Vermutlich werdet Ihr aber grauenhaft lange Zeit vor dem Computer hocken und klicken, klicken, klicken… Vielleicht im nächtlichen Nahkampf mit dem Notensatzprogramm, sehr wahrscheinlich aber auch, weil wieder die Live-Elektronik nicht das macht, was sie machen sollte. Anstatt des genialen „wohoo“-Sounds, der extraterrestrisch durch 128-Kanäle fliegen sollte, macht dieses verflixte „Patch“, wie es so schön in Nerdsprache heißt, nur „Fuff“ und es heißt: Fix the bug, fix the bug bis ihr die Sonne seht, farbenfroh am Himmelssaum – denn morgen startet in irgendeinem dunklen Keller Eure Performance.

Anträge, Meetings, Website, Insta-Story, Wettbewerbe

Befreit Euch schon mal von allerlei erlernten Klischees, was eine Komponistin oder ein Komponist tagsüber so treibt: Kennt Ihr dieses süße Katzenemoji, das mit dem Kopf immer auf den Tisch haut? Ich glaube, das ist ein Komponist. Denn während Ihr eigentlich an einem neuen Notationssystem für die transmediale Luft-Balalaika-Performance arbeiten wollt, müsst Ihr Anträge schreiben. Und danach müsst Ihr noch einen Antrag schreiben, bevor Ihr ein Meeting habt, in dem Ihr einen neuen Antrag besprecht. Zwischendurch E-Mails, dann ein Update der Website. Dann schnell noch eine Insta-Story von den Meetings machen. Dann noch acht Bewerbungen für Wettbewerbe und Stipendien. Und wenn der Rücken schon ganz durch ist vom vielen Sitzen – kommt der Tag des Klassenkonzerts mit dem neuen Schlagzeug-Solo. Und verdammt, sagt Ihr da, während Ihr drei Vibraphonständer vom Schlagzeugkeller in die Aula schleppt, hätte ich mal auf meine Professorin gehört, die mir etwas von der Ökonomie der Mittel erzählte.

Komplexist? Konzeptualist, Spektralist?

Oftmals erschreckende Erkenntnis im ersten Semester: Gerade noch der komponierende Obernerd im Gymnasium, Aufnahmeprüfung bestanden – und der Hochschulalltag beginnt: Plötzliche Einsicht: Ich bin nicht mehr der Obernerd. In der Mensa die Frage der Kommilitonen, kurz vor ihrem Masterabschluss: Bist Du Komplexist? Konzeptualist, Spektralist? Eher so performativ unterwegs, kennst Du postdramatisches experimentelles Dokumentartheater nicht? Hast Du heute Morgen Deine Paradigmen noch nicht gewechselt, Alta?

Verwirrung, was das Zeug hält.Potzblitz, raunt Ihr da, will dieser fast schon mittelalte Mann mir den Spaß verderben? Jetzt schon?

Keinesfalls, raune ich beherzt zurück! So ein Studium kann nämlich auf alles Mögliche vorbereiten, ruft Kenntnisse und Erfahrungen ab, an die ihr noch nie gedacht hattet – die es in dieser Sekunde noch gar nicht gibt. Denn Ihr seid ja die, die zukünftig definieren sollen, was eine Komponistin, was ein Komponist ist.

Saugt die Institutionen aus, wo Ihr nur könnt!

Bis es so weit ist: Saugt die Institutionen aus, wo Ihr nur könnt. Lernt, was das Zeug hält. Dirigierstunden, Sprachkurs, eine neue Programmiersprache, ein Tanzwissenschaftler hält einen Vortrag? Geht hin! Eignet Euch eine hohe Frustrationstoleranz bei Misserfolgen an. Meine Güte, wie viele Ablehnungen ich bekommen habe! Außerdem: wartet nicht, bis Euch irgendwelche Superstars toll finden und Eure Stücke spielen. Gründet Ensembles, Bands, weiß der Geier. Fragt nicht was die neue Musik für Euch tun kann, fragt, was Ihr für die neue Musik tun könnt. Oder besser: Fragt, was neue Musik überhaupt ist. Noch besser: Fragt was Musik überhaupt ist. Und habt bloß nicht zu früh Antworten. Ganz wichtig: Seid solidarisch. Geht zu Konzerten! Geht auch zum Fagottabend, ja – mein voller Ernst: geht zum Fagottabend!

Und dann, dann werdet Ihr sehen… es gibt diese raren Momente, an denen Ihr wisst, warum Ihr diesen höchst merkwürdigen Beruf lernt. Wenn alles geprobt und alles bereit ist. Und dann hebt sich der Vorhang – das ist ziemlich unfassbar. Und es wäre schrecklich, denke ich mir dann, wäre ich Orthopäde geworden.

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Gordon Kampe