Buch-Tipp

„Mensch hinter dem Mythos“: Kirsten Jünglings Beethoven-Biographie

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AUTOR/IN
Christoph Vratz

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Es gibt zeitgenössische Darstellungen, die zeigen Ludwig van Beethoven mit grimmiger Miene. Ein Stereotyp? War er wirklich so? Was wissen wir eigentlich über diesen Mann, von dem immerhin bekannt ist, dass er auch einen ausgeprägten Sinn für Humor besaß? Die Autorin Kirsten Jüngling hat sich nun auf Spurensuche begeben, um ein Bild vom Menschen Beethoven zu entwerfen. Inwieweit ihr das gelungen ist, berichtet Christoph Vratz.

Viele Assoziationen über Ludwig van Beethoven sind denkbar, auch diese:

„Beethoven, als begnadeter Improvisateur, elegant gekleidet, am Klavier in adligen Kreisen bisher gut herumgekommen, als Komponist gefeiert, […] ein Künstler romantischer Prägung“.

Doch Vorsicht vor verklärenden Bildern! Denn ein Problem der Beethoven-Forschung sind die Quellen: Welchen Aussagen von Zeitgenossen kann man überhaupt trauen?

„So viele Quellen […] an deren Echtheit oder Korrektheit gezweifelt werden darf – die Beethoven-Literatur ist voll von alldem. Die vielen Beethoven-Biografien […] auch. Das ist typisch. Und ein Problem..“

Also gilt es zu filtern und kritisch auszuwerten, was gewesen sein könnte und was wirklich hieb- und stichfest ist. Kirsten Jüngling warnt gleich zu Beginn ihres Buches vor zu viel Spekulation, negiert aber schon mit Beethovens Geburt in der heutigen Bonner Altstadt die eigenen Warnungen.

„Eine ruhige Ecke unter dem Dachgiebel im Hinterhaus […] Zum Geburtstermin im Dezember 1770 muss es dort oben sehr kalt gewesen sein. […] Maria Magdalena könnte ihren Ludwig aber auch in der warmen Küche unten im Haus zur Welt gebracht haben […]“

Schon nach wenigen Seiten zeichnet sich ab, dass viele offene Fragezeichen das neue Buch durchziehen – auch wenn Kirsten Jünglings soghafter Erzählfluss den Leser rasch in den Bann zieht. Geradezu filmisch präzise suggeriert die Autorin, wie es damals war – oder gewesen sein könnte:

„Im Hof war eine Schaukel, da trafen sich die Kinder der Nachbarschaft. Ludwig soll das Gewusel genossen haben. (...)"

Viele zentralere Erfahrungen für den jungen Ludwig bleiben jedoch offen. Die prägenden Einflüsse der Bonner Hofkapelle, ihrer Bibliothek und ihrer damaligen Musiker werden allenfalls gestreift. Kirsten Jüngling folgt dem Genie, wie sie Beethoven nennt, zügig nach Wien.

Immer wieder durchsetzt Jüngling ihren Text mit Andeutungen: hätte-könnte-„es scheint“ und: „Es soll so gewesen sein, er soll dies oder das getan hat“. Oder schlicht: „Es kursiert das Gerücht.“ Der Leser fragt sich mit zunehmender Dauer: Was denn nun? War es so, und vor allem: Wer behauptet das? Die Autorin oder Zeitzeugen? Sich auf Beethovens mögliche spätere Vaterschaften beziehend, wagt die Autorin den Satz:

„Es war und ist einfach zu verlockend, sich ihn in einer Liaison vorzustellen, aus der ein Kind hervorging.“

Solche Passagen, verklärend und distanzlos, lassen kein positives Gesamtfazit zu. Einnehmen kann die Autorin durch ihre plastischen und anschaulichen Beschreibungen, vom damaligen Wien, von Adelshäusern, von Beethovens Umgang mit seinem Neffen und bei anderem mehr.

Diese Darstellungen leben von Präsenz und Prägnanz, auch weil Kirsten Jüngling eine sehr lebendige, teilweise allerdings das Saloppe streifende Sprache wählt. Doch auch bei der Würdigung von Beethovens Musik ergeben sich immer wieder Unschärfen..

„Wenn die 9. Sinfonie Beethovens eine weltweite Karriere machen würde, so verbindet sich mit seiner letzten, nur aus zwei Sätzen bestehenden Klaviersonate, besonders mit der Variation 3 des Themas der Arietta, etwas anderes: eine spezielle Dynamik, Synkopen, die an Boogie-Woogie oder Ragtime erinnern, und geradezu schräg klingen, wenn sie pointiert genug gespielt werden.“

Ziel des Buches ist, den Menschen Ludwig hinter dem Mythos Beethoven zu ergründen. Dabei geht Kirsten Jüngling nicht systematisch vor, sondern chronologisch. Entlang der Biographie versucht sie, Beethovens Eigenschaften zu ergründen. An verschiedenen Stellen stößt man auf Sätze wie:

„Ehrgeizig war Beethoven. Anders wäre seine Karriere nicht möglich gewesen […] viel Naivität war wohl auch im Spiel. Der leicht reizbare Beethoven war immer gut für einen Eklat.[…] Die Konversationshefte […] zeigen allerdings einen durchaus witzigen, genussfreudigen Beethoven.“

Von einer Charakterstudie ist dieses Buch jedoch weit entfernt, zumal eine entscheidende Facette Beethovens keine Rolle spielt: sein Humor, der auf vielfältige Weise in der Musik seinen Niederschlag gefunden hat. Auch die Frage, inwieweit seine Ertaubung Beethovens Wesen womöglich verändert hat, bleibt offen.

Keine wirklich neuen Erkenntnisse zu Beethoven

Kirsten Jüngling ist ein zweifelhaftes Buch gelungen: Es ist lesenswert, weil es sich leicht liest, auch mit Hang zum Boulevardesken. Doch es bietet zum einen keine wirklich neuen Erkenntnisse zu Beethoven, zum anderen vernebeln die vielen Vagheiten den Blick aufs Faktische: Was von den vielen Andeutungen ist für die Autorin glaubwürdig, wo distanziert sie sich? Wir erfahren es leider nicht oder nur viel zu selten.

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Christoph Vratz