Buch-Tipp

Andreas Oplatka: „Die ganze Welt ist ein Orchester“

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AUTOR/IN
Christoph Vratz

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„Die ganze Welt ist ein Orchester“ heißt das neue Buch von Andreas Oplatka. Eine Biographie des ungarischen Dirigenten Adam Fischer, dem Chefdirigenten der Düsseldorfer Symphoniker. Aus Anlass seines 70. Geburtstag ist nun das erste Buch über ihn erschienen. Christoph Vratz hat es gelesen.

Die Wege des Adam Fischer schienen früh vorgezeichnet.

„Erziehung im Zeichen der Musik hatte in der Familie Fischer das Leben der Kinder bestimmt. Dass sie alle Musiker werden sollten, wurde ihnen sehr wohl an der Wiege schon gesungen“.

Schnörkellos beginnt Andreas Oplatka seine Biographie. Er gräbt (zunächst jedenfalls) nicht in der Vergangenheit der Eltern, sondern springt rasch in den Oktober 1956, als der siebenjährige Adam Fischer die Ungarische Revolution erlebt.

Frühes Interesse für politische Zusammenhänge

Nachdem der Aufstand niedergeknüppelt war, normalisierte sich das Leben in Budapest, zumindest vordergründig. Was bis heute davon geblieben ist: Fischers unbändiges Interesse für politische Zusammenhänge und sein waches historisches Denken.

„Die zwei Elemente, die Fischers Leben und Denken bestimmen, die Liebe des Berufsmusikers zu seiner Kunst und die Leidenschaft des Privatmanns für das politische Zeitgeschehen, treffen sich naturgemäß nur selten.“

Zusammengeführt wurden diese beiden Seiten, als Fischer Mitte der 80er Jahre versuchte, grenzüberschreitende Haydn-Festspiele ins Leben zu rufen; denn:

„…der Eiserne Vorhang trennte die jetzt teils in Österreich und teils in Ungarn liegenden einstigen Güter der Esterházys.“

Österreichisch-ungarische Schnittmenge

Mehr als 60 Jahre nach dem Zusammenbruch der Donaumonarchie suchte Fischer, der in Budapest und Wien studiert hatte, nach österreichisch-ungarischen Gemeinsamkeiten und formierte ein Orchester, mit dem er im Laufe der Jahre alle 104 Sinfonien von Joseph Haydn einspielte.

Orchestererzieher mit Leib und Seele

Obwohl Fischer in Mailand und Tokio, in München, Salzburg und zuletzt Bayreuth, in New York und London mit namhaften Orchestern große Erfolge feierte, ist er bis heute doch am liebsten ein Orchester-Erzieher geblieben, ein Mann, der in Ruhe einen Klangkörper formen und fordern kann – und so zu teils spektakulären Ergebnissen gelangt.

„Das Dänische Kammerorchester kam aus dem Niemandsland, im Bereich der Klassik schleppte es keinerlei Traditionen mit. (…) Zum ersten Mal konnte Fischer seine interpretatorischen Ideen von Grund auf durchsetzen […] Was hier aufgebaut wurde, war Fischers Werk allein.“

Mit den Dänen, die ursprünglich ein Rundfunkorchester waren und nur dank privater Initiativen überleben konnten, hat Fischer einen mal fiebrigen, mal betont lyrischen Mozart- und zuletzt einen mitreißenden Beethoven-Zyklus dokumentiert.

Akribische und materialreiche Biographie

Andreas Oplatka ist – wie Fischer ungarischer Herkunft – und von Haus aus Historiker. Viele Jahre hat er als politischer Redakteur der „Neuen Zürcher Zeitung“ gearbeitet. Aus zahlreichen Gesprächen mit Adam Fischer, der die Zusammenarbeit mit Oplatka am Ende des Buches kurz einordnet, ist eine akribische und materialreiche Biographie entstanden. Sie zeigt Fischer nicht nur als Musiker, sondern auch als Menschen: als einen Mann von Witz, als glühenden Verfechter grenzüberschreitenden kulturellen Denkens und als einen kritischen Beobachter sozialer Entwicklungen.

So sieht Fischer in einem Orchester immer auch einen Spiegel der Gesellschaft:

„Einzelne Gruppen haben es oft schwer, ihre Sonderinteressen dem Gemeinwohl unterzuordnen, Bündnisse und Gegensätze können offen oder insgeheim entstehen, Machkämpfe werden ausgetragen.“

Womit die Frage des Führungsstils von Dirigenten erreicht ist – und ein möglicher Vergleich, inwieweit sich der Ministerpräsident eines Landes und ein Orchesterleiter in ihren Rollen einander ähneln.

Zeitkritische und spannende Lektüre

Egal, ob dieses Buch von Ungarn innerhalb des heutigen Europas handelt oder von Regisseuren und ihren Ideen, wie man eine Oper zeitgemäß auf die Bühne bringt, ob von Momenten des Zweifelns oder des Erfolges die Rede ist – immer wirkt diese Biographie sehr ehrlich. Oplatka schreibt anschaulich und zugleich wohltuend sachlich. Eine Beweihräucherung des Biographierten findet man glücklicherweise nicht. Ein spannendes, lesenswertes und nicht zuletzt umsichtig zeitkritisches Buch.

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Christoph Vratz