Haltung vor Virtuosität
Drei Akkorde, eine Gitarre und die Wahrheit, mehr braucht man angeblich nicht, um gute Musik zu machen. Aus dieser Haltung entstand im England der späten 70er Jahre die Punk-Bewegung.
Junge Leute, die Musik machten, obwohl sie kaum ein Instrument spielen konnten. Aber egal: Haltung war wichtiger als Virtuosität.
„Das klang gar nicht schlecht“
„Ich hab mir ‚Wie man Gitarre spielt‘ gekauft, und er ‚Wie man Bass spielt‘“. erinnert sich der Gitarrist Bernard Sumner an die ersten Tage von Joy Division.
„Dann haben wir uns bei meiner Großmutter ins Wohnzimmer gesetzt. Ich weiß noch, dass wir keine Verstärker hatten. Sie hatte ein altes Grammophon aus den Vierzigerjahren, ich hab die Nadel rausgenommen und zwei Klinkenbuchsen angeschlossen. Das klang gar nicht schlecht.“
Joy Division: Oral History einer Band
Bernard Sumner ist einer von mehr als 30 Protagonist*innen, die Jon Savage in seinem großartigen Buch „Sengendes Licht, die Sonne und alles andere“ zu Wort kommen lässt.
Dabei geht Savage dokumentarisch vor. Wie im Radio-Feature sammelt der Autor die Erinnerungen der Zeitzeugen und arrangiert sie. Keine Einordnung, kein Kommentar – die Oral History einer Band.
Der inspirierende Dreck der Industriestadt
Zugleich auch eine Art Sozialgeschichte, denn, so die These, für den düsteren Sound von Joy Division war der deprimierende industrielle Norden Englands entscheidend. Die Band klang so wie Manchester und Salford aussahen.
„Bis ich neun war, hatte ich noch keinen Baum gesehen. Ich war von Fabriken umgeben. Man hatte eine Wahnsinnssehnsucht nach schönen Dingen.“
„Bei zwei Begriffen dachte man immer an die Städte im englischen Norden, insbesondere an Manchester. Der eine war »Slum« (…) Der andere »Arbeitslosigkeit« (…)“, sagt Tony Wilson, Manager der Band. „Manchester war eine wirklich dreckige Stadt, eine dirty, dirty old town.“
„Ich glaube, bis ich ungefähr neun war, hatte ich noch keinen Baum gesehen“, erinnert sich auch Bernard Sumner an seine Stadt. „Ich war von Fabriken umgeben, und da war nichts Schönes, gar nichts. Man hatte also eine Wahnsinnssehnsucht nach schönen Dingen.“
Popgeschichte ohne Star-Kult
Jon Savages Geschichte von Joy Division ist eine ungewöhnliche Popgeschichte, weil sie kaum etwas vorgibt. Die Sichtweisen widersprechen einander, kreisen recht locker um ein Thema, werden von Savage kuratiert.
Vor allem gibt es keinen Star-Kult. Ian Curtis, der frühverstorbene Sänger der Band, taucht erst spät im Buch auf. Auch das ist eine Überraschung: Der düstere Sänger erscheint als netter Typ, verheiratet, belesen und depressiv.
Schuldsuche wegen Ian Curtis' Tod
Warum Ian Curtis sich später erhängte, ist bis heute unklar. In Jon Savages Buch kann man seinen Bandfreunden dabei zusehen, wie sie sich Jahre später noch immer Vorwürfe machen.
Ian Curtis litt an Epilepsie, einer Krankheit, die nicht mit dem Leben eines Rockstars vereinbar ist und die seine Depression verstärkt haben dürfte.
Name-dropping kann ermüden
Jon Savages Buch hat auch Schwächen – so wird die Entwicklung der Band chronologisch gezeigt, das ist auf die Dauer etwas monoton. Auch das O-Ton-Prinzip läuft irgendwann leer und wird zu einer Punk-Veteranen-Geschichte.
Ständig fallen die Namen längst vergessener Bands und längst geschlossener Clubs. Weniger wäre hier wirklich einmal mehr gewesen. Vielleicht braucht dieses besondere Buch aber auch besondere Leser. Leser ohne Ehrfurcht, die Seiten überblättern, irgendwo hängen bleiben und doch weiterlesen.