1. StandArt – Tigran Hamasyan
Der armenische Pianist Tigran Hamasyan hat einen Hang zum köstlich Metrisch-Vertracktem, und er fasziniert, wenn er tausendmal gehörte Jazzstandards unter die Lupe seiner multirhythmischen Ideen nimmt. Plötzlich klingt das scheinbar Komplizierte einfach und natürlich.
„Standart“ heißt das Album. „Standard“ geschrieben am Schluss mit einem „T“ für „Art“. Große Kunst tatsächlich: So ein Piano-Solo wie über Kenny Dorhams Hard-Bop-Klassiker „Dee Dah“ hat man vorher noch nie gehört.
2. Onxy – Sasha Berliner
Mit ihrem zweiten Album unter eigenem Namen geht die aus San Francisco stammende Vibrafonistin Sasha Berliner einen entscheidenden Schritt weiter in Richtung Weltruhm. Das Album „Onyx“ trumpft in Top-Besetzung auf: mit dem Pianisten James Francies, dem Saxofonisten Jaleel Shaw und dem Schlagzeuger Marcus Gilmore. Berliner feiert Eigenkompositionen im Post-Fusion- und utopischen modalen Format.
Aber auch ein Klassiker wie „My Funny Valentine“ glänzt in aufregend neuem Gewand. In ihrer zupackenden Art ringt Sasha Berliner dem Vibrafon melodische, rhythmische und harmonische Glanzlichter ab. Großartig!
3. Morning Glory – Bill Evans
Wie ein Heiligtum gehütet hatte der Sound-Techniker des Teatro Gran Rex in Buenos Aires diese Tonband-Aufnahme. Jetzt kann man sie erstmals genießen: in historischer, aber immer noch respektabler Klangqualität. Und staunen, wie der Pianist Bill Evans und sein telepathisch reagierendes Trio Hof hielten: live, 1973 in Argentinien.
Die Doppel-CD „Morning Glory“ dokumentiert den Poeten des Jazz-Pianos auf dem Höhepunkt seiner Kunst. Lyrik, pralle Harmonik, delikate Rhythmen und ein Dreigespann im Sog einer unvergleichlichen Interaktion. Die historische Neuveröffentlichung des Jahres!
4. Silver Needle – Tobias Wiklund
Die Trompeten-Überraschung des Jahres kommt aus Skandinavien: der Schwede Tobias Wiklund treibt sein Kornett-Spiel tief in den Stollen der Jazztradition hinein und bringt beim Schürfen nach Edelmetall Diamanten der Blechbläserkunst ans Tageslicht. Ironisch flackernde Shuffles. Vibrato-selige Brass-Band-Einlagen, humoriges Dämpfer-Spiel. Sverige-Blues!
5. Amaryllis/Belladonna – Mary Halvorson
Großartiges kam 2022 auch von Mary Halvorson. Mit den beiden Alben „Amaryllis“ und „Belladonna“ findet die Queen der Avantgarde-Gitarre neue Kontexte für ihren unvergleichlichen, persönlichen Stil.
„Amaryllis“ bringt ein jammendes Sextett, dessen Avant-Funk-Grooves durch Halvorsons mikrotonal schweifenden Tremolo-Stil erst hinterfragt und dann wieder bestätigt werden. „Belladonna“ verlässt das erdige Ambiente des Partner-Albums und bringt ruhigere durchkomponierte Streichquartett-Sounds, die Halvorson durch geniale Gitarrenimprovisationen ergänzt. Glänzend Notiertes, starke Soli. „Amaryllis“ und „Belladonna“. Zwei Meilensteine in Mary Halvorsons einzigartiger Diskografie.
6. John Scofield – John Scofield
Kaum zu glauben beim Star-Gitarristen John Scofield: in der an Stilen, Genres und Formaten prunkvollen Trophäensammlung, die seine Diskografie schmückt, gibt es eine Leerstelle: Noch nie hat Scofield ein Soloalbum aufgenommen. Jetzt, nach rund 45 Alben, mit 70 Jahren, schließt er diese Lücke, gelingt ihm der große unbegleitete Wurf. Schlichter Titel: „John Scofield“.
Ob klar im Sound oder verzerrt, ob Blues, Jazz, Country, Bebop oder Ballade. Für den Amerikaner sind Funkiness und bedingungslose Modernität kein Widerspruch. Er performt hier mir reichlich Ideen und Gitarren-Sounds. Very personal!
7. Bells on Sand – Gerald Clayton
Der Amerikaner Gerald Clayton zelebriert auf dem unaufgeregten Album „Bells On Sand“ einen faszinierend nebligen Jazz, Sounds der Ruhe und des Friedens. Über Tracks im Geiste von Frederic Mompou, Neo-Soul und Jazz-Standards schwebt eine zauberhafte „Kind of Blue“-Atmosphäre des 21. Jahrhunderts. Clayton zeigt, dass es auch in Momenten des Innehaltens und des Zögerns knistern und lodern kann. Emphatische Musik mit Flow.
8. Elastic Wave – Gard Nilssen
Vom Tanz bis zum wütenden Ausbruch ist alles drin in diesem pianolosen akustischen Trio-Jazz, der grandios zwischen den ästhetischen Polen von Ornette Coleman, Dewey Redman und Sonny Rollins hin- und her swingt, groovt und free auskeilt. Mit seiner Band „Acoustic Unity“ gibt der Norweger Gard Nilssen eine Visitenkarte ab als Großmeister unter Europas Star-Drummern. Energieverdichtung pur.
9. Piano Solo – Micah Thomas
Der Deal: fünf Jazz-Standards einspielen für das musikereigene Label „LP 345 Records“. Micah Thomas setzt sich ans Klavier, und es fließen ihm ganz spontan Soli über 10 Standards aus den Fingern, fast alles erste Takes. Das Album mit dem schlichten Titel „Piano Solo“ ist eine ideensprühende Sensation.
Wie aus dem Nichts ist dieser Pianist in die Szene gekommen. Micah Thomas fährt nicht mit dem Schnarchnasen-Zug durch die Prärie der Nostalgie, sondern deutet die Standards radikal persönlich und neu – und bleibt doch in jeder Note, die er spielt, fest verankert in dem Wissen: „Wir alle stehen auf den Schultern von Giganten.“
10. Searching In Grenobe - The 1978 Solo Piano Concert – Mal Waldron
So innovativ und konzentriert, wie er oft spielte, lässt sich Mal Waldron auch heute immer noch neu entdecken. Seine dunkel durch den harmonischen Raum stochernden Ostinati und Linien wurden oft mit einem „Morse-Alphabet“ verglichen.
Der Pianist, der Billie Holiday in ihren letzten Jahren begleitete und mit „Soul Eyes“ eine der schönsten Balladen des Modern Jazz schuf, telegrafiert in diesem neu entdeckten Live-Auftritt magische afro-amerikanische Botschaften. „Mal Waldron – Searching In Grenoble: The 1978 Solo Piano Concert“.