Rio Reiser singt auf einer Bühne ins Mikrofon (Foto: IMAGO, imago/Votos-Roland Owsnitzki)

25. Todestag des Ausnahmekünstlers

Rio Reiser und sein musikalisches Erbe

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AUTOR/IN
Samira Straub

Mit Rio Reiser starb am 20. August vor 25 Jahren ein musikalischer Wegbereiter, der die deutschsprachige Rockmusik für immer veränderte. Doch die Verschmelzung von Authentizität, Politik und Emotion, die Reiser einst mit einer großen Portion Attitüde kombinierte, lebt weiter: durch zahlreiche musikalische Erb*innen.

Amerikanische Rockmusik, deutsche Texte und ein anarchischer Live-Auftritt

Geboren am 9. Januar 1950 als Ralph Christian Möbius hatte der Berliner nur einen Traum: Er wollte Musiker werden. Nach 15 erfolgreichen Jahren mit dem Musikerkollektiv Ton Steine Scherben, folgte eine ebenso erfolgreiche Zeit als Solokünstler. Am 20. August 1996 starb Möbius, der inzwischen den Künstlernamen Rio Reiser angenommen hatte, mit nur 46 Jahren. Er sollte einer der einflussreichsten deutschsprachigen Musiker aller Zeiten bleiben.

Als Rio Reiser und seine Band Ton Steine Scherben 1970 ihren ersten Live-Auftritt auf einem Festival auf der Insel Fehmarn abliefern, ist das der Beginn einer neuen Ära für die deutschsprachige Musik: Beim ikonischen Love and Peace-Festival, bei dem am gleichen Tag Jimi Hendrix das letzte Konzert seines Lebens spielt, präsentiert die Band erstmals ihren revolutionären „Agitrock“ einem größeren Publikum.

Deutsche Texte zur amerikanischen Rockmusik? Politische Parolen, Aufruf zur Revolte? All das verhilft Ton Steine Scherben und ihrem Frontmann Rio Reiser schnell zu Kultstatus, wenngleich beim Konzert auf dem „Love and Peace“-Festival nur noch rund 5.000 Besucher*innen anwesend sind. Aufgrund der schlechten Organisation des Festivals ruft Reiser das Publikum dazu auf, das Gelände zu verwüsten. In Kombination mit dem Song „Macht kaputt was euch kaputt macht“ hinterlässt diese Botschaft bleibenden Eindruck und kreiert den Soundtrack einer ganzen Generation.

Wir wollen die Feinde des Volkes nennen: Macht kaputt, was euch kaputt macht — zerstört das System, das euch zerstört.

Das Private ist politisch, aber das Individuum steht im Zentrum

Geprägt von Subjektivismus, Frustration und dem kollektiven Wunsch nach Freiheit lieferten die „Scherben“ den Soundtrack zu den Revolten der frühen 1970er Jahre. Der Band um Songschreiber Rio Reiser war es wichtig, dass ihre Lieder einfach gehalten und in Alltagssprache formuliert waren. Denn darin bestünde laut Reiser die Schlagkraft eines Liedes: Es ist nur dann stark, wenn viele es singen können.

In jeder Stadt und in jedem Land, heißt die Parole von unserem Kampf, heißt die Parole von unserem Kampf: Keine Macht für Niemand!

Im Fokus steht dabei eine Parole, die die Scherben von der US-amerikanischen Feministinnenbewegung der späten 1960er Jahre übernahmen: „The personal is political“ — das Private ist Politisch. Heißt in diesem Fall: Die Songs der Band sind zwar politisch, aber das Zentrum der Songs bildet stets das Individuum.

Rio Reiser bei einem Auftritt als König von Deutschland (Foto: IMAGO, imago stock&people)
Obwohl Textzeilen und Botschaften aus Reisers Feder die politische Linke in 1970ern beeinflussen und er Parteien wie SPD, Grüne und PDS aktiv unterstützte, wehrte er sich stets gegen eine rein politische Instrumentalisierung seiner Kunst.

Reiser ist Inspiration und Muse für zahlreiche deutschsprachige Künstler*innen

Zahlreiche Bands und Künstler*innen aus dem deutschsprachigen Raum nennen Rio Reiser heute als Inspiration für ihr musikalisches Schaffen. Der Einfluss seiner Kompositionen ist auch heute, Jahrzehnte später, noch in vielen Songs hörbar. Bands wie Selig, Wir sind Helden oder Annenmaykantereit greifen auf ihre ganz eigene Art den Geist von Rio Reiser und Ton Steine Scherben auf und übertragen ihn in eine andere Zeit. Was sie alle miteinander verbindet: Ein feines Gefühl für Texte, Authenzität, Emotion und eine große Portion Rotz, um sich vom glattgebügelten Sound der breiten Masse abzuheben.

Mit Rio Reiser starb heute vor 25 Jahren ein musikalischer Wegbereiter, der die deutschsprachige Rockmusik für immer...Posted by SWR2 on Thursday, August 19, 2021

In zahllosen Songs sind Liedzeilen aus Reisers Feder mittlerweile festgehalten und neu aufgelegt, teilweise wurden ganze Lied-Fragmente zu neuen Songs gesampled. So ist beispielsweise das Gitarrenriff des Welthits „Song 2“ der britischen Band Blur identisch mit dem aus dem Scherben-Song „Warum geht es mir so dreckig“. Außerdem gibt es mehrere Tribute-Alben, in denen erfolgreiche Künstler*innen ihre liebsten Ton Steine Scherben-Songs neu interpretieren.

Kollektive Ekstase bei Livekonzerten und politische Botschaften schließen sich auch 40 Jahre später nicht aus

Durch die Flüchtlingskrise 2015 und das Erstarken der politischen Rechten ging ein Ruck durch die Gesellschaft, der auch an der Musik nicht spurlos vorbei ging. Während der popmusikalische Mainstream sich mit Statements eher bedeckt hielt, nutzten wie zu Reisers Zeiten Rockbands ihre Bühne, um auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam zu machen.

Die Chemnitzer Band Kraftklub, die sich 2010 gründete und in ihrer Musik die Alltagssprache der Jugendkultur mit politischen Themen ganz im Stile Reisers verknüpft, benannte ihr 2017 erschienenes Studioalbum „Keine Nacht für Niemand“ in Anlehnung an das Scherben-Album „Keine Macht für Niemand“.

Es ist gerade der deutschsprachige Punk, der heute an Reiser erinnert: Das Privileg, vor vielen Menschen musizieren zu können, ist kostbar und will bedacht genutzt werden, das wusste schon Rio Reiser. Das Schreiben von Hymnen für ganze Generationen junger Menschen ist immer auch mit Erwartungen und Druck verbunden, die balanciert werden wollen.

Aktuellen deutschen Bands wie Kraftklub, Jennifer Rostock oder Feine Sahne Fischfilet gelingt genau das: Sie erzeugen bei ihrem Publikum ein Zusammengehörigkeitsgefühl und können gleichermaßen mit ihrer emotionsgeladenen Musik begeistern. Die ganze aufgestaute Energie einer frustrierten Generation entlädt sich bei Konzerten der Bands in kollektive Ekstase – so in etwa muss sich das 1971 in Fehmarn angefühlt haben.

Eigene Labels, um den Druck der kommerziellen Musikbranche zu umgehen

Kleine, aber einflussreiche Indie-Labels wie „Audiolith Records“ oder „Grand Hotel van Cleef“ haben ihre Ursprünge alle abseits des Mainstreams. Weil Künstler*innen keine geeignete Plattform für ihre Musik finden, eher unkonventionellere Sounds realisieren und sich ihre Kunst nicht von Major-Labels vorschreiben lassen wollen, versuchen sie sich selbst als Verleger*innen. Einer der Wegbereiter für diese Methode? Rio Reiser.

Um Einflüsse aus der kommerziellen Musikbranche zu vermeiden, gründeten die „Scherben“ 1971 ihr eigenes Plattenlabel, auf dem sie fortan ihre Alben veröffentlichten. Die „David Volksmund Produktion“ war eines der ersten Independent-Labels in Deutschland und bis heute Vorbild für zahlreiche Musiker*innen. Was damals noch eine Seltenheit war, ist heute gängige Praxis.

Um unabhängiger in Produktion, Distribution, Marketing und Stilrichtung sein zu können, haben mittlerweile zahlreiche deutsche Bands ihre eigenen Labels gegründet. So veröffentlichen Die Toten Hosen ihre Musik bereits seit den 1990er Jahren auf dem von ihrem Manager gegründeten Label „Jochens kleine Plattenfirma“, das mittlerweile auch Musik von Feine Sahne Fischfilet oder der Antilopen Gang produziert.

Musiker Thees Uhlmann bei einem Konzert des Labels Grand Hotel van Cleef (Foto: IMAGO, imago images/POP-EYE)
„Grand Hotel van Cleef“ wurde 2002 von den Musikern Thees Uhlmann, Marcus Wiebusch und Reimer Bustorff gegründet. Wiebuschs Band Kettcar hatte kurz zuvor ihr erstes Album eingespielt, fand jedoch kein Label, um es zu veröffentlichen.

Der wohl einflussreichste Ideengeber für Musik in deutscher Sprache

Wenn man sich heute in der alternativen Szene erfolgreiche Bands wie Wanda, Adam Angst oder das Berliner Duo Milliarden anhört, dann erinnert die Rotzigkeit und der Weltschmerz ihrer Songs an die Musik von Rio Reiser. Obwohl mehrere Jahrzehnte musikalischer Entwicklung zwischen Reiser und dem Deutschrock von heute liegen, wirken Reisers Werke nicht altbacken – im Gegenteil: Sie sind zeitlos und scheinen stellenweise gar brandaktuell.

Ton Steine Scherben und Reisers spätere Solokarriere waren kommerziell nie die erfolgreichsten Projekte in Deutschland, aber sie zählten zu den wohl einflussreichsten Ideengebern für Musik in deutscher Sprache. Rio Reiser ist seit 25 Jahren tot. Doch in der deutschsprachige Rockmusik der letzten Jahre ist sein Sound lebendiger denn je.

Die Playlist zum Artikel: Rio Reiser und seine musikalischen Erb*innen

Berlin

Leben Keine Macht für Niemand – Klaus Götzner, der ehemalige Schlagzeuger von "Ton, Steine, Scherben"

Mit der Annonce "Schlagzeuger zwischen Zen und Mao sucht Anschluss an Gruppe" wurde Klaus Götzner in den 1970er-Jahren Mitglied von "Ton, Steine, Scherben". Die Band um Rio Reiser formulierte viele Jahre musikalisch die Ideen der radikaleren linken Szene in Deutschland. | Von Grace Yoon

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Samira Straub