Buchkritik

Zadie Smith - Grand Union. Erzählungen

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AUTOR/IN
Anja Brockert

Race und Gender, Sex und Familie – viele Themen aus Zadie Smith‘ Romanen finden sich auch in diesen Erzählungen aus den letzten zehn Jahren. Vom literarischen Experiment bis zur aktuellen Story, von der alternden schwarzen Dragqueen bis zum opioidsüchtigen Ex-Cop: Ein Band voller überraschender Figuren und Texte. Herausfordernd, kritisch und klug erzählt.

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Die einen schuften, die anderen lassen sich treiben

Der Fluss der Faulheit fließt in Zadie Smith‘ gleichnamiger Erzählung im Süden Spaniens, in einer All-inclusive-Ferien-Anlage. Während nebenan Migranten aus Afrika in den Tomatenplantagen schuften, geben sich britische Urlauber dem Flow hin und lassen sich von der künstlichen Strömung im Pool entspannt durch den Tag treiben. Die meisten jedenfalls.  

Ein paar Menschen – mit weniger Tattoos und häufig mit Studienabschluss – wenden sich demonstrativ in die Gegenrichtung, entschlossen, zum Schlag gegen die Strömung auszuholen, sie kommen nicht voran, halten aber die Stellung, und sei es nur für einen Augenblick, während die anderen vorbeitreiben.
(Zadie Smith: Grand Union. Erzählungen)

Zadie Smith‘ Erzählung „Lazy River“, der Fluss der Faulheit, erschien nach dem Brexit-Referendum – eine bitterironische Kritik an der britischen Gesellschaft und Politik, und zugleich viel mehr: eine philosophische, metaphorische Erkundung über den Fluss des Lebens, Denkfaulheit und die zunehmende Künstlichkeit der Welt in digitalen Zeiten. Junge Mädchen verbringen die Urlaubstage damit, Selfies zu inszenieren, und abends sitzen alle mit ihren Smartphones auf den Balkonen über der Ferienanlage:

Unter uns kreist der Fluss der Faulheit, neonblau, ein irrwitziges Blau, ein Facebook-Blau.
(Zadie Smith: Grand Union. Erzählungen)

19 ganz unterschiedliche Erzählungen - vom literarischen Experiment bis zur historischen Erzählung

19 sehr unterschiedliche Texte versammelt dieser erste Erzählungsband von Zadie Smith, einige sind – wie „Der Fluss der Faulheit“ – im vergangenen Jahrzehnt bereits im Magazin „The New Yorker“ erschienen, über die Hälfte ist hier zum ersten Mal veröffentlicht.

Literarische Experimente sind darunter, eine historische Erzählung über einen rassistischen Mord 1959 in London, die Dystopie eines Lebens in der virtuellen Realität, in dem kaum noch authentische Kommunikation möglich ist. Und Vignetten aus dem alltäglichen Straßenleben in New York, wo Zadie Smith einen Teil des Jahres lebt.

Zadie Smith: Sich selbst nicht zu belügen gehört zu den schwierigsten Dingen im Leben

Race und Gender, Klassenunterschiede, Sex, Familie, Freundschaft und Identität – Themen, die wir aus Smith‘ Romanen kennen, sind auch in vielen dieser Erzählungen miteinander verwoben.

In den besten Geschichten des Bandes bildet das Ringen um Wahrhaftigkeit den Unterstrom. „Existenzielle Freiheit“, hat Zadie Smith einmal in einem Interview gesagt, „bedeutet für mich, sich möglichst nicht selbst zu täuschen. Sich selbst nicht zu belügen, was zu den schwierigsten Dingen im Leben gehört.“

Wenn Gott eine Tür schließt, macht er ein Fenster auf

Auch viele ihrer Figuren kämpfen um Aufrichtigkeit – sich selbst und anderen gegenüber, mal mehr, mal mehr weniger erfolgreich. Da ist der rührselige Ex-Cop McRae in der Erzählung „Wichtige Woche“, der wegen seiner Opioidsucht aus dem Polizeidienst entlassen wurde. Nun steht er nach 30 Jahren Ehe auch noch vor der Scheidung. Niemand will ihn mehr. McRae bemüht sich trotzdem um Dankbarkeit und Zuversicht. Seinem Sohn Tom erzählt er:

Vor ein paar Wochen hatten deine Mutter und ich ein wirklich schönes Gespräch. (…) Sehr versöhnlich, sehr ehrlich (…) und sie hat zu mir gesagt: Ich will reisen, ich will neue Menschen kennenlernen. (…) Vor dreißig Jahren habe ich mich mit Mike McRae begnügt, jetzt bin ich sechsundfünfzig, und ich will mich nicht mehr begnügen. (…) Das zu hören, Tom, das war richtig schwer. Aber wenn sie so empfindet, dann empfindet sie eben so. Wir haben drei wunderbare Söhne. Ich kann hier ganz aufrichtig stehen und sagen: Ich bereue nichts. (…) Wenn Gott eine Tür schließt, macht er ein Fenster auf.
(Zadie Smith: Grand Union. Erzählungen)

Einige Erzählungen der heute 46jährigen Zadie Smith kreisen ums Älterwerden

Versiert lässt Zadie Smith ihren einsamen Protagonisten auf dem schmalen Grat zwischen Selbsttäuschung und Erkenntnis balancieren. Frei fühlt sich am Ende dieser Erzählung die Ex-Frau von McRae, die mit Mitte fünfzig ihre Wahrheit ausspricht: Sie will ihr eigenes Leben und ihren Körper zurückerobern.

Ums Älterwerden kreisen einige Erzählungen der heute 46jährigen Zadie Smith. Wie leben eigentlich Punks, wenn sie mal 40, 50 sind, fragt sich die Erzählerin im Text „Stimmungslage“: 

Glorreicher Kern des Punk ist immer noch die Weigerung, sich nicht einschüchtern zu lassen, vor allem nicht vom Vergehen der Zeit. Doch selbst Roberta war ein klein wenig erschüttert, als sie mit ansehen musste, wie Preston, ihr langjähriger Papagei, aus dieser Welt in jene andere hinüberging, die uns alle am Ende erwartet (…).
(Zadie Smith: Grand Union. Erzählungen)

Ein Korsett kann vielleicht die Leibesfülle eindämmen, aber nicht die Einsamkeit

Und in der Erzählung „Miss Adele kauft ein Korsett“ muss sich eine alternde schwarze Dragqueen nicht nur mit ihrer wachsenden Leibesfülle auseinandersetzen, sondern auch mit ihrer Einsamkeit.

„Showtime“ hieß Zeit ihres Lebens die Devise, schon als Kind in der vermeintlich glücklichen, streng religiösen Familie bis jetzt, im mittleren Alter, wenn sie auf der Straße von Touristen angestarrt wird: 

Also hieß es, (ihnen) ihr gewinnendstes Lächeln zu schenken. In den pelzbesetzten Chelsea-Boots mit dem kleinen, dezenten Absatz um die nächste Ecke zu tänzeln. Kaum außer Sichtweite aber fiel alles in sich zusammen: das Lächeln, der durchgedrückte Rücken, einfach alles.
(Zadie Smith: Grand Union. Erzählungen)

Im Korsett-Geschäft streiten der Ladenbesitzer und seine Frau in einer fremden Sprache. Dragqueen Adele fühlt sich ignoriert, bezieht den Streit auf sich, vermutet Diskriminierung und Rassismus, es kommt zum Eklat. Und kurz blitzt in ihr die Ahnung auf, dass sie durch die viele Zeit allein die Signale anderer Menschen vielleicht nicht mehr richtig deuten kann.

Zadie Smith erzählt von Isolation und Gleichgültigkeit, aber auch von Wärme und Nähe

Von Isolation und Gleichgültigkeit vor allem in der Großstadt erzählt Zadie Smith, aber auch von Wärme und Nähe. Am schönsten in der Erzählung „Für den König“: Eine Frau und ihr schwuler Freund treffen sich nach einem Jahr in Paris wieder – und sind einander gleich wieder vertraut. Einen Abend im Restaurant haben sie füreinander reserviert, und zwischen Hauptgang und Käseplatte treiben wir mit ihnen durch ihr langes Gespräch: über Sex und Affären, Polyamorie und ethnische Herkunft – und natürlich über das Älterwerden:

V machte mit seinem Iphone ein Selfie von uns, das wir anschließend auf dem Display begutachteten, nur um festzustellen, dass wir beide nicht einmal im Ansatz so jung aussahen, wie wir gedacht hätten. Aber wären wir weiß, sagte V leicht betreten, dann wäre die Lage völlig aussichtslos, zumindest dafür können wir also dankbar sein.
(Zadie Smith: Grand Union. Erzählungen)

Mit literarischer Raffinesse und kritischem Geist fordert uns Zadie Smith heraus mitzudenken

Das Gefühl der selbstverständlichen Verbundenheit spiegelt Zadie Smith in einer kleinen Episode am Ende: Im Zug sitzt neben der Erzählerin ein Mann mit Tourette-Syndrom, der ständig den gleichen Satz wiederholt: „Pour le Roi“. Und jedes Mal antwortet ihm seine Mutter ruhig: „Jaja Liebling, für den König“.

Sie behandelte die Aussage nicht als etwas Unwillkürliches, im Grunde Sinnentleertes – wie das Aufjaulen eines Tieres –, sondern als menschliche Äußerung, die trotz allem noch eine Bedeutung transportierte, so klein diese auch sein mochte.
(Zadie Smith: Grand Union. Erzählungen)

Nicht alles ist brillant in diesem Band, manche Texte sehr sprunghaft-assoziativ, andere etwas überfrachtet, auch mit aktuellen Themen und Beobachtungen, von der Gentrifizierung bis zu den herumliegenden Tretrollern in Paris.

Doch der Band zeigt Zadie Smith einmal mehr als tiefschichtige und kluge Erzählerin, die in direkter, oftmals rasanter Sprache den Sound der Gegenwart bannt. Mit literarischer Raffinesse und kritischem Geist fordert uns Zadie Smith heraus, mitzudenken – und den Fluss der Faulheit zu verlassen.  

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Anja Brockert