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Yuko Tsushima – Räume des Lichts

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AUTOR/IN
Katharina Borchardt

Sie hat sich von ihrem Mann getrennt, einem chaotischen Künstlertyp. Jetzt zieht sie zusammen mit ihrer knapp dreijährigen Tochter in eine eigene Wohnung. In ihrem Roman „Räume des Lichts“ erzählt Yuko Tsushima vom ersten Trennungsjahr einer beeindruckend selbständigen und zugleich spontanpoetisch handelnden jungen Japanerin.

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Ihre neue Wohnung soll hell sein. Sie braucht „Räume des Lichts“, die Erzählerin in Yuko Tsushimas gleichnamigem Roman. Gerade hat sie sich von ihrem Mann getrennt, einem unzuverlässigen und finanzschwachen Lebenskünstler. Jetzt bloß nicht in ein dunkles Loch ziehen! In der obersten Etage eines Bürogebäudes findet sie schließlich eine bezahlbare Wohnung, die zu allen vier Seiten Fenster hat. Gemeinsam mit ihrer knapp dreijährigen Tochter zieht sie ein.

In zwölf Kapiteln erzählt uns die namenslose Mutter von ihrem ersten Trennungsjahr. Nicht unemotional, aber sachlich und präzise. Da geht es zunächst um die Einrichtung der Wohnung, um einen Wasserschaden und den großen Genuss, bei rundum und allseits und weithin geöffneten Fenstern zu leben. Es geht um Durchfall und Windpocken, um einen kuscheligen Kurzzeit-Freund und einen erotischen Ausrutscher mit einem verheirateten Mann. Wichtig sind außerdem ihre Arbeitsroutinen, denn die Erzählerin arbeitet im Bandarchiv eines Radiosenders.

Das überrascht, erschienen die zwölf Episoden dieses Romans doch bereits 1978. Das ist über vierzig Jahre her, doch selbst heute sind viele verheiratete Japanerinnen nicht berufstätig. Die Erzählerin in „Räume des Lichts“ aber ist auf fraglose Weise selbstständig. Eine emanzipierte Frau, die sich trotzdem oft entschuldigen und verbeugen muss. Zum Beispiel gegenüber ihrem Mann, der nicht oft und dann völlig unerwartet auftaucht. Ein Pop-Up-Vater, der auch keine Unterhaltszahlungen auf die Reihe kriegt.

An Vorwürfen gegenüber seiner Noch-Ehefrau aber mangelt es nicht. Einmal erwischt er sie abends sogar in einer Nachbarschafts-Bar, in die sie der Enge der Wohnung mal kurz entkommen musste. Ihre Tochter schläft derweil allein zuhause, was ihr Schläge und den Vorwurf einträgt, eine schlechte Mutter zu sein. Ein Vorwurf, den sie sich auch selbst macht, etwa wenn sie mal verschläft oder ihre Tochter sich irgendwo danebenbenimmt.

Yuko Tsushima wusste, wovon sie schrieb. Sie war selbst Mutter eines Kindes, sie ließ sich 1977 scheiden, und sie kannte auch die Arbeit in einem Radioarchiv. Ihr Roman lässt sich der Shishosetsu-Literatur zurechnen, der japanischen „Ich-Literatur“. Die kam mit dem Naturalismus des späten 19. Jahrhunderts auf. Einer Zeit, in der viel westeuropäische Literatur ins Japanische übersetzt wurde.

Eine individuelle Perspektive so wichtig nehmen – das war neu für die japanische Kollektiv-Gesellschaft. Ein besonders radikaler Ich-Autor wurde Osamu Dazai, dessen Roman „Gezeichnet“ eines der meistgelesenen japanischen Werke des 20. Jahrhunderts ist. Dazai ist ein moderner Klassiker und: der Vater von Yuko Tsushima. Direkt nach Abgabe von „Gezeichnet“ nahm er sich 1948 das Leben. Seine Tochter war damals ein Jahr alt.

Auch die Erzählerin in „Räume des Lichts“ erwähnt an einer Stelle, dass ihr Vater schon kurz nach ihrer Geburt starb. „Ich hatte ihn gewissermaßen abgelöst“, sagt sie. Diese Randbemerkung ist es schließlich, die die zwölf sorgsam konstruierten und motivisch verdichteten Erzählungen wie Licht-Variationen über einer Bassline der Vergänglichkeit wirken lässt. Denn die Erzählerin hat ein besonderes Sensorium für den Tod. Regelmäßig kommt sie an Trauerfeiern vorbei, sie hört von Ferne den Schrei eines Jungen, der aus dem Fenster stürzt, und auch ihr Goldfisch springt eines Nachts unbemerkt aus seinem Glas.

In vielen ihrer Träume steckt sie in Matsch oder Treibsand fest und ist in Todesgefahr. Deswegen auch die starke Wahrnehmung alles Hellen und Lichten, seien das Straßenlaternen oder Neonreklamen, Wunderkerzen oder die Sonne höchstpersönlich. In einem ihrer Träume umarmt die Erzählerin einen Mann. Beide sind nackt. Ihrer beider Haut beginnt zu leuchten. Selten hat man von einer so spontanpoetischen Alleinerziehenden gelesen.

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