Buchkritik

Yasmina Reza – Serge

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AUTOR/IN
Jörg Magenau

Wie kann man Auschwitz gedenken? Indem man die heutige Gedenkstätte besucht? Eine jüdische Familie aus Paris probiert es. Doch es kommt zum Eclat, wie man es von der erfahrenen Eskalationsexpertin Yasmina Reza auch schon aus Erfolgsdramen wie „Der Gott des Gemetzels“ kennt. Neue Erkenntnisse bringt ihr neuer Roman „Serge“ aber leider nicht.

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Was ist das für eine jüdische Familie, in der der Vater die Mutter als Antisemitin beschimpft?

Was ist das für eine jüdische Familie, in der der Vater die Mutter als Antisemitin beschimpft? Vermutlich eine ganz normale jüdische Familie, in der es wie in jeder normalen Familie unterschiedliche Meinungen gibt, über die lustvoll und manchmal auch beleidigend gestritten wird. Jüdischer Witz und jüdische Selbstironie gehören da unbedingt dazu. Wenn die Kinder der Mutter mit dem Hinweis zu Hilfe kommen, dass sie doch Jüdin sei, setzt der Vater gleich noch einen drauf:

„Das sind die Schlimmsten! Die schlimmsten Antisemiten sind selber Juden. Das müsst ihr lernen.“
Und um den Nagel so richtig einzuschlagen und nebenbei noch das Gedenken an Mutters Familie zu beschmutzen, fügte er hinzu, nur dass ihr Bescheid wisst, es gibt nichts Beschämenderes als einen Juden, der sich schämt!
„Wozu brauchen wir Israel?“, sagte Maman, „guck dir doch an, wie viele Probleme das macht.“
„Die Juden brauchen Israel.“
„Brauchen wir es, Juden zu sein? Wir sind nicht gläubig.“
„Die versteht gar nichts.“
(Aus: Yasmina Reza: Serge)

Yasmina Rezas Dialoge sind brillant, pointiert, witzig, sarkastisch

So geht es zu in der Familie Popper in Yasmina Rezas neuem Roman „Serge“, der in Paris spielt, im Kern aber von einer Reise nach Auschwitz handelt.

Warum er „Serge“ heißt und nicht „Jean“ wie der zweite Sohn oder „Nana“ wie die jüngere Schwester oder auch „Die Poppers“ erklärt sich nicht. Serge ist einfach nur der älteste Sohn der Familie, ein eher windiger Charakter, sogenannter Unternehmensberater und ziemlich unzuverlässiger Liebhaber, der deshalb auch bald von seiner Geliebten Valentina nach einem grandiosen Streit rausgeschmissen wird.

Yasmina Rezas Dialoge sind nicht nur in dieser Szene brillant, pointiert, witzig, sarkastisch. Die Dramatikerin, die vor allem mit dem Stück „Der Gott des Gemetzels“ berühmt wurde, ist ganz in ihrem Element, wenn ihre Figuren sprechen. Also sprechen sie sehr viel und immer pointiert.

Der Ich-Erzähler verwandelt sich heimlich in einen auktorialer Erzähler, ein handfester Fehler der Romankonstruktion

Der Erzähler des Romans ist Jean, ein bisschen seriöser als Serge aber auch ein bisschen langweiliger, ein Zauderer, der sich von klein auf dem großen Bruder angeschlossen hat und macht, was der ihm sagt. Er ist unauffällig und also durchaus geeignet als Erzähler, der das Geschehen eher beobachtet als bestimmt. Dass er dabei vieles weiß, was er als Ich-Erzähler eigentlich gar nicht wissen kann, und sich also heimlich in einen auktorialer Erzähler verwandelt, ist ein handfester Fehler der Romankonstruktion.

Yasmina Reza stammt selbst aus einer weitverzweigten jüdischen Familie, kennt also die Konflikte um die eigene Identität aus nächster Nähe. Ihre Romanfiguren sind vor allem dadurch angetrieben, dass sie alles sein wollen, bloß keine Opfer. Vielleicht haben ihre Beziehungsschwierigkeiten auch damit etwas zu tun, denn auch Jean hat eine gescheiterte Beziehung hinter sich.

Die Familie bricht nach dem Tod der Mutter zu einer Reise nach Auschwitz auf

Das bliebe soweit alles auf der unterhaltsamen Ebene beiläufigen Geplänkels und Geplauders, auf das Reza sich sehr gut versteht. Dann aber bricht die Familie nach dem Tod der aus Ungarn stammenden Mutter und angetrieben vor allem von Serges Tochter Josephine zu einer Reise nach Auschwitz auf, auch wenn Serge und Jean nur halbherzig mitfahren.

Warum sollen sie sich für den Todesort der ungarischen Vorfahren interessieren, mit denen sie nichts verbindet? Weil es, wie Jean sagt, „ehrlos“ wäre, in einer Welt, „die sich an dem Wort Gedenken berauscht“, nichts damit zu tun haben zu wollen. Doch das reicht, wie sich herausstellt, nicht aus. Vor Ort gelingt es ihm nicht, angemessen zu reagieren. Wie auch.

„An diesen Orten mit ihren komischen Namen, Auschwitz und Birkenau, wollten mir keine Gefühlsreaktionen gelingen. Ich schwankte zwischen Kälte und dem Bemühen, etwas zu empfinden, womit man nur sein Wohlverhalten unter Beweis stellen will. Und ich denke, ist all dieses VERGESST NICHT!, sind all diese wilden Mahnungen zum Gedenken nicht zugleich auch Ausflüchte, um die Ereignisse zu entschärfen und sie guten Gewissens in der Geschichte zu entsorgen?“
(Aus: Yasmina Reza: Serge)

Die Alternative zur Erinnerungskultur ist nicht das Vergessen. Ganz im Gegenteil

Jean ist ein Skeptiker der Erinnerungskultur. Mit guten Gründen. Die Alternative ist allerdings nicht das Vergessen. Ganz im Gegenteil. Als Jude misstraut er jedoch den Ritualen und billigen Ausflüchten. Serge lehnt die Besichtigungen rundheraus ab. Er bleibt in demonstrativer Verweigerung im Auto sitzen, trägt aber eisern einen schwarzen Anzug als Zeichen der Trauer, während die Frauen herumlaufen, Fotos machen, jede Schrifttafel lesen und alles „grauenhaft“ finden, was grauenhaft ist.

Die sich anschließende Kritik am Holocaust-Tourismus in kurzen Hosen, morgens Horror und abends Volksfest, ist einigermaßen billig und nicht gerade originell. Reza demonstriert anhand ihrer familiären Reisegruppe, dass es kein angemessenes Verhalten im Vernichtungslager geben kann.

Mit ihrem Personal führt sie die unterschiedlichste Haltungen vor, ohne sie zu bewerten. Hingehen ist nicht besser als wegbleiben, Trauer ist nicht besser als Erkenntniswille, und Erinnerung ist nur dann etwas wert, wenn sie an eigene Erfahrungen angebunden wird. Anzurechnen ist Yasmina Reza auch, dass sie jegliches Pathos herunterbricht, keinerlei Ergriffenheit gestattet und alle Fragen offenbleiben.

Das Buch führt auf mittlerem Niveau der Unterhaltsamkeit mit mittlerem Erkenntnisgewinn ins Leere

Offen ist auch das Ende des Romans, wenn Serge beim Arzt sitzt und auf seine Diagnose wartet. Die Geschichte könnte durchaus noch weitergehen, es spielt keine Rolle. Das Buch zerfällt in einzelne Szenen, in Gelungenes und Unbedeutendes, und führt auf diesem mittleren Niveau der Unterhaltsamkeit mit mittlerem Erkenntnisgewinn ins Leere.


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