Buchkritik

Werner Herzog – Jeder für sich und Gott gegen alle. Erinnerungen

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AUTOR/IN
Ulrich Rüdenauer

Einer der großen Regisseure seiner Generation, daneben ein erstaunlicher Schriftsteller – und in 80 Jahren scheint Werner Herzog mindestens fünf Leben gelebt zu haben. In „Jeder für sich und Gott gegen alle“ erinnert er sich an seine Kindheit, seine Filme, seine Abenteuer. Fantastisch erzählt, faszinierend zu lesen.

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Es ist eine der oft erzählten Anekdoten aus dem an Anekdoten reichen Leben von Werner Herzog: Als der Regisseur seinen legendären Film „Fitzcarraldo“ im unwegsamen Amazonas-Gebiet drehte, konnte er in den Augen der indigenen Männer vom Stamm der Asháninka Campas pure Angst entdecken. Er vermutete, dass die Tobsuchtsanfälle seines Hauptdarstellers Klaus Kinski diese Reaktion ausgelöst hätten; die Ureinwohner hatten sogar angeboten, Kinski für ihn zu töten.

„Sie saßen dann still am Boden im Kreis und flüsterten miteinander. In ihrem sozialen Miteinander gibt es nie laute Auseinandersetzungen.“
(Aus: Werner Herzog - Jeder für sich und Gott gegen alle)

Einer der Häuptlinge ließ ihn später allerdings wissen, dass sie nicht vor „dem brüllenden Wahnsinnigen“ Angst empfunden hätten. Sondern vor Herzog selbst – weil der immer so leise gewesen sei.

Ein Stoiker mit Obsessionen

Wer jemals Werner Herzogs Dokumentation über Klaus Kinski, „Mein liebster Feind“, gesehen hat, weiß ziemlich genau, was gemeint ist: Herzog erzählt darin in größter Ruhe von absurdesten und tollkühnsten Erlebnissen. Er wirkt neben Klaus Kinski wie ein masochistischer Stoiker. Und gleichzeitig scheint er etwas Obsessives an sich zu haben; ununterbrochen von Energie, Neugier und Erkundungslust getrieben zu sein.

Auf Youtube findet man das Video eines Interviews, das Herzog der BBC vor ein paar Jahren in Los Angeles gab. Regisseur und Reporter stehen am Rand einer Straße, plötzlich hört man einen Knall. Herzog fasst sich an den Bauch, wirkt aber nicht sonderlich irritiert. Später öffnet er vor laufender Kamera die Hose, zieht das Hemd nach oben und offenbart eine Schusswunde. Der Interviewer ist entsetzt. Herzog selbst lächelt und sagt in seinem markant-kantigen, in den USA Kultcharakter genießendem Englisch: „Ah, it’s not significant.“ Ach, das sei doch nicht von Bedeutung.

Keine abgeschlossene Autobiographie, sondern eine gelungene Auswahl an Episoden

Von schönster Bedeutung aber sind die Erinnerungen, die Werner Herzog nun unter einem seiner Filmtitel veröffentlicht hat: „Jeder für sich und Gott gegen alle“. Herzog ist ein großartiger, verführerischer Erzähler. Er lässt sich von seinen Assoziationen treiben und keine Sekunde Langeweile aufkommen. Im Auswählen scheint er geschickt zu sein. Denn die 80 Lebensjahre passen auf gut 300 Seiten. Vermutlich hätte er ohne Probleme die dreifache Seitenzahl füllen können. Es ist eine Autobiographie nicht im strengen Sinn, sondern eine episodenhaft durch die Zeiten und diverse ereignisreiche Lebenssituationen führende Reise.

„Vieles (…) erscheint mir wie auf einem Hochseil, ohne dass ich die meiste Zeit überhaupt bemerkte, dass links und rechts neben mir ein Abgrund gähnte.“
(Aus: Werner Herzog - Jeder für sich und Gott gegen alle)

Von Gefahren nicht zu wissen, ist besser, als sich von ihnen einschüchtern zu lassen: Schon als Kind und Jugendlicher, schreibt Werner Herzog, habe er kein Abenteuer gescheut. In München geboren, wächst er bis zum elften Lebensjahr im oberbayerischen Dorf Sachrang auf. Seine Geschwister und er streunen aufsichtslos durch die Gegend; es ist eine vaterlose Zeit der „Anarchie“. Herzogs Großvater, ein Altphilologe, wird hingegen zum prägenden Vorbild.

„[Er] hatte eine Eigenschaft, die ich sehr schätze, er konnte Landschaften lesen.“
(Aus: Werner Herzog - Jeder für sich und Gott gegen alle)

Als Jugendlicher reist Werner Herzog alleine durch Griechenland, zu jenen Orten, die sein Großvater erforscht hat. Mit 14 konvertiert er zum Katholizismus, das Mystische und Mythische ziehen ihn an. Die erste Kamera seines Lebens entwendet er aus dem Institut für Film und Fernsehen – eine zwar unmoralische Tat, für die man ihm aber nachträglich die Absolution erteilen muss. Früh schon dreht er Filme, obwohl er als Kind nicht den geringsten Begriff von Kino hatte; alles Technische war sehr fern, das erste Telefongespräch führte er mit 17.

Die Erfindung des Kinos aus der Unkenntnis über das Kino

Weil er davon überzeugt gewesen sei, nicht älter als 25 zu werden, hätten ihn Konventionen wenig geschert, erzählt Herzog:

„Das hatte zur Folge, dass ich Filme zu machen begann, bei denen ich davon ausgehen konnte, darüber hinaus werde es nichts mehr von mir geben. Warum nicht den Mut haben, Formen zu finden, die es so nie gegeben hatte, Letzte Worte von 1967 mit seinen endlosen Wiederholzwängen in der Erzählung, ein Kurzfilm in neugriechischer Sprache, Fata Morgana von 1969, wo ich Luftspiegelungen in der Sahara gefilmt hatte, Stoffe wie Auch Zwerge haben klein angefangen, ebenfalls von 1969, mein vermutlich radikalster Film, in dem alle Darsteller Liliputaner sind. Mir war auch bewusst, dass ich – aus fast völliger Unkenntnis des Kinos – auf meine Weise Kino selbst zu erfinden hatte.“
(Aus: Werner Herzog - Jeder für sich und Gott gegen alle)

Der Filmemacher, Weltreisende, Grenzgänger, Schauspieler, Schriftsteller, Philosoph Herzog ist ein Geschichtenbewahrer- und -erfinder: Er berichtet von Schul- und Studienfreunden – einem von ihnen, der für ihn eine Seminararbeit verfasst, verspricht er scherzhaft, ihn unsterblich zu machen. Sein Name: Hauke Stroszek. Herzog hält Wort. Einer seiner Filme mit Bruno S. erhält den Titel „Stroszek“.

Herzog schildert Transzendenzerfahrungen oder berichtet von seiner Gabe als Hypnotiseur – die er an Schauspielern ausprobiert und die offensichtlich Einfluss auf die Art seines Sprechens hat. Er nimmt uns mit auf seine Reisen in die USA oder nach Mexiko, wo er als 23-Jähriger im Clownskostüm beim Rodeo auf Stieren reitet. Bei manchen Szenen weiß man nicht recht, ob er sich einen Scherz erlaubt oder uns ins Innerste seines Werks führt: Etwa schreibt er davon, wie er sich als junger Parkwächter einen Spaß daraus machte, das Lenkrad eines Autos so einzuklemmen, dass der Wagen auf dem Parkplatz fortwährend im Kreis fuhr – ein Hinweis auf das „Kreismotiv“, das in seinen Filmen immer wieder auftauche.

Gerade die Passagen über die Kinder- und Jugendzeit sind nicht nur aufschlussreich, sie haben dazu eine enorme erzählerische Kraft. Sein Talent zur Freundschaft schimmert durch die Zeilen über seinen Bruder Lucki oder den Schriftsteller Bruce Chatwin. Großzügig und zugleich dezent spricht er über die Frauen seines Lebens.

„Sie alle waren ausnahmslos selbständig, stark, schön und intelligent. Ich wäre nur ein Schatten meiner selbst ohne sie.“
(Aus: Werner Herzog - Jeder für sich und Gott gegen alle)

Herzog sagte einmal in einem Interview, dass er nicht glaube, seine Filme würden die Zeiten überdauern. Vielmehr werde seine Prosa ihn überleben. Nun, die Nachwelt wird darüber entscheiden. Sowohl das filmische wie das schriftstellerische Schaffen aber sind höchst eigensinnig; der hypnotische Ton und suggestive Bildkosmos fesseln immer wieder von Neuem. Wie Herzog dazu fand, wie er vom Dorfbuben zum Star des Neuen Deutschen Films und schließlich zum kultisch verehrten Dokumentarfilmer wurde – das lässt sich nun in seinen uneitlen und horizontweitenden Erinnerungen nachlesen.

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Ulrich Rüdenauer