Buchkritik

Volker Reinhardt – Montaigne. Philosophie in Zeiten des Krieges

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AUTOR/IN
Holger Heimann

Michel de Montaigne schrieb seine berühmten Essays in unheilvoller Zeit. Religionskriege stürzen Frankreich im 16. Jahrhundert in eine Periode der Selbstzerfleischung. Der Historiker Volker Reinhardt zeigt in seiner Biografie überzeugend, wie Montaigne mit seinen Essays auf eine allumfassende Unsicherheit antwortet und gegen Gewalt und Grausamkeit anschreibt.

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In dem Essay „Über die Physiognomie“ erzählt Michel de Montaigne davon, wie er zweimal überfallen wurde und nur knapp mit dem Leben davonkam. Einmal wird er unterwegs ausgeraubt, ein anderes Mal in seinem eigenen Haus bedrängt. Ob er seine Rettung wirklich vor allem dem freimütigen Auftreten und seinem natürlichen Gesichtsausdruck verdankte, wie Montaigne schreibt, lässt sich kaum mit Sicherheit sagen.

Klar hingegen ist, dass das Leben des Michel de Montaigne überschattet war von allgegenwärtiger Bedrohung. Für den Historiker Volker Reinhardt sind die berühmten Essays vor allem eine Reaktion auf eine existenzielle Unsicherheit. Denn seit 1562 tobt ein Bürgerkrieg im Land, in dem sich Franzosen verschiedener Kirchen und Konfessionen gegenseitig zerfleischen.

Michel de Montaigne, 1533 geboren, arbeitet 20 Jahre lang, bis zu seinem Tod 1592 an den Essays, die ihn berühmt gemacht haben. In freundschaftlich familiärem Ton schreibt er über sich und das Leben. Es ist kein Zufall, dass er mit der Niederschrift in dem Jahr beginnt, als der Bürgerkrieg eskaliert und zehntausende Hugenotten den Massakern der Bartholomäusnacht zum Opfer fallen.

Volker Reinhardt zeigt in seiner exzellenten Biografie, dass die Abfassung der Essays für den Mann, der sein Amt als Gerichtsrat in Bordeaux aufgibt und sich auf sein Schloss zurückzieht, zur Überlebensstrategie wird. Montaigne will nicht nur die Ursachen der mörderischen Konflikte und fürchterlichen Exzesse ergründen, sondern dazu beitragen, diese zu beheben. Die Lösung liegt für ihn in der Erziehung des Menschen zur Toleranz gegenüber abweichenden Meinungen, so Reinhardt.

Montaigne ist ein Denker in Krisenzeiten, der nach Orientierung sucht. Auch deswegen ist er uns so nah. Volker Reinhardt deutet nur an, dass sich aus der Lektüre der Essays manches für unsere Gegenwart mit ihrem Hang zu unduldsamer Korrektheit lernen ließe. Doch die wenigen Hinweise, die der Biograf gibt, der ansonsten eng bei Montaigne und dessen Zeit bleibt, machen deutlich, was Reinhardt an der Beschäftigung mit dem Philosophen gereizt hat. Nicht von ungefähr zitiert er Montaigne mit dem Satz:

„Wenn man mir widerspricht, weckt man meine Aufmerksamkeit, nicht meinen Zorn. Ich gehe auf denjenigen zu, der anderer Meinung ist als ich, denn er bereichert mich.“

Zu den spannendsten Kapiteln in Reinhardts Buch und im Leben seines Protagonisten gehört dessen Fahrt nach Rom, zu der er 1580 aufbricht. Über Montaignes Motivation für die anderthalbjährige Reise ist immer wieder spekuliert worden. Wollte er Botschafter beim Papst werden? Reinhardt glaubt das nicht. Der Historiker sieht die Reise als spannendes, lebensgefährliches Experiment. Denn Montaigne bringt die Erstausgabe seiner Essays mit nach Rom und legt sie den Theologen der Indexkongregation vor:

„Er will ausloten, was möglich ist, was er künftig schreiben kann.“

Erstaunlicherweise haben die römischen Experten kaum Einwände. Doch das Experiment hätte schief gehen können. Denn Montaigne zeigt sich bereits in den ersten beiden Bänden seiner Essays, die er in Rom vorlegt und die er später um ein drittes Buch ergänzt, als radikaler Skeptiker. Im Zeichen des umfassenden Zweifels entzaubert er alle Religionen.

Man wurde im 16. Jahrhundert für weit weniger als Ketzer verfolgt und bestraft. Wie konnten die Römischen Theologen die Kritik am Christentum überlesen? Reinhardt vermutet, dass Montaigne durchaus im Visier der Inquisition war, letztlich aber seine Strategien der Verschleierung, die viele seiner Essays prägen, Erfolg hatten. Gern gibt er sich als Durchschnittsmensch aus, der andere gar nicht von seinen Ansichten überzeugen will.

Montaignes Essays zu lesen ist wie das Gespräch mit einem klugen Freund. Es gibt nichts Gestelztes und Gekünsteltes bei ihm. Doch zugleich stecken seine Essays auch voller Widersprüche, die er, wie Reinhardt überzeugend darlegt, bewusst einbaut. Für den Biografen ist das Teil der pädagogischen Methode seines Protagonisten: Dieser will, dass seine Leser selbst zur Wahrheit vorstoßen. „Die Lektüre der Essays ist daher wirklich eine Aufgabe“, so Reinhardt.

Es ist eine Aufgabe, die sich lohnt. Volker Reinhardts Biografie macht das auf überzeugende Weise deutlich. Sie zeigt den Menschen Montaigne in seiner Zeit und kann dazu verführen, ihn wieder zu lesen oder seine Essays ganz neu zu entdecken.

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Holger Heimann