Anfang 2014 überschlagen sich die Ereignisse im Leben der Journalistin Victoria Belim: Während russische Panzer Richtung Ukraine rollen, bucht sie Tickets in ihre alte Heimat. Von dieser Reise und ihrer Suche nach dem verschwundenen Urgroßonkel erzählt sie in „Rote Sirenen“. Das berührende und packende Buch, erzählt von der beeindruckenden Widerstandskraft der ukrainischen Gesellschaft und ist in 15 Ländern gleichzeitig erschienen.
Seltsamer Eintrag im Notizbuch des Urgroßvaters
Frühjahr 2014 - auf dem Maidan, einem zentralen Platz in der ukrainischen Hauptstadt Kyiv, eskaliert die Gewalt zwischen Regierungskräften und Demonstranten. Tausende Kilometer entfernt verfolgt die Journalistin Victoria Belim diese Ereignisse. Sie lebt in Brüssel, ist aber in der Ukraine geboren und als Jugendliche mit ihrer Familie in die USA ausgewandert. Jahrzehntelang spielte die Ukraine keine Rolle in ihrem Leben, bis zu den Maidan-Protesten. Und noch etwas treibt Victoria um. In einem Notizbuch ihres Urgroßvaters stößt sie auf einen seltsamen Eintrag.
„Bruder Nikodim, verschwunden in den 1930er Jahren im Kampf für eine freie Ukraine.“
Die Großmutter hat kein Interesse an der Vergangenheit
Nikodim ist Victorias Urgroßonkel. In der Familie wurde nie über ihn gesprochen. Was aus ihm geworden ist, wann und wo er gestorben ist, ein Rätsel. Während russische Truppen 2014 die ukrainische Grenze erreichen, reist Victoria in die Zentralukraine: Mehrere Monate bleibt sie bei ihrer Großmutter Valentina.
Kaum angekommen, möchte sich Victoria auf die Suche nach Spuren zu Nikodim machen. Ihre Großmutter hingegen hat kein Interesse daran, in der Vergangenheit zu graben. Sie pflegt lieber aufwendig ihren Garten: Anbaupläne, das Kalken von Kirschbäumen, Kartoffelaussaat.
Allein auf Spurensuche
Also macht sich Victoria allein auf Spurensuche: Auf über 300 Seiten begleiten wir sie auf ihren Nachforschungen. Es ist eine Reise durch eine verlorene Zeit: In Dörfern mit Lenin-Straßen und Lenin-Büsten trifft sie auf Frauen, die traditionelles ukrainisches Kunsthandwerk pflegen, die KGB-Akten und Archive hüten, und die, wie Valentina, das Land kultivieren.
„Im Auto kam mir der Gedanke, dass an Orten, wo Männer in den Krieg ziehen müssen, Frauen die Rolle von Erinnerungshüterinnen einnehmen. Die Ukrainer lobten ihre Frauen für ihre Widerstandskraft und ihre Stärke, aber ich verstand jetzt, dass sie außerdem eine wichtige Rolle bei der Bewahrung der ukrainischen Geschichte spielten.“
Rückblicke, politische Entwicklungen, familiäre Details
In „Rote Sirenen“ schlägt Victoria Belim einen großen Bogen: vom Zweiten Weltkrieg bis zum russischen Krieg, der seit 2014 das Land nicht nur in Schmerz stürzt, sondern auch eine ungeahnte Widerstandskraft aufleben lässt. Der journalistische Hintergrund von Belim prägt ihr erstes Buch: Reportage-artig lässt sie uns an ihrer langen und aufwendigen Recherche teilhaben. Es sind viele historische Rückblicke, politische Entwicklungen, kulturelle und familiäre Details, die sie zusammenwebt. Das kann etwas überfordernd sein.
Belim hält Putins Imperialismus die Widerstandskraft der Ukrainer entgegen
Doch es lohnt sich, sich auf diese Reise einzulassen. Gerade jetzt, wo die russische Armee Wohnhäuser bombardiert, ukrainische Kulturschätze plündert und Familien auseinanderreißt. Die Ukraine als eigenständige Nation auszulöschen, ist Putins erklärtes Kriegsziel. Dem hält Victoria Belim etwas entgegen, das länger überlebt als jeder imperiale Machtanspruch: Menschen wie ihre Großmutter Valentina, die auch in dunkelsten Zeiten einen Kirschbaum pflanzen.