Buchkritik

Vicente Valero – Krankenbesuche

Stand
AUTOR/IN
Christoph Schröder

In "Krankenbesuche" erinnert der spanische Schriftsteller Vicente Valero sich an seine Kindheit auf Ibiza. Es ist ein eindrucksvolles Buch, in dem bei jedem Krankenbesuch eine neue Insel-Geschichte auf den Tisch kommt. Der historische und politische Hintergrund wird stets ganz selbstverständlich miterzählt.

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Es ist eine Mischung aus christlicher Nächstenliebe, Solidarität und Neugierde, die die Mutter des Ich-Erzählers antreibt. Wie bereits ihre eigene Mutter und wie alle Frauen in ihrem Umfeld pflegt sie den Brauch der Krankenbesuche. Bei Nachbarn, bei Freunden, bei Bekannten oder bei Bekannten von Bekannten.

Ein engmaschiges Netz, das Verlässlichkeit garantiert, aber auch Kontrolle. Denn selbstverständlich gehört zu diesen Visiten auch, je nach Schwere der Erkrankung, ein ausgedehnter Plausch, der Austausch von Neuigkeiten und Informationen. Eine nicht zu unterschätzende Größe im prä-digitalen Zeitalter. Man bringt Suppe mit oder Gebäck, auch einmal ein lebendes Huhn, das zuerst getötet und gerupft werden muss, bevor aus ihm eine Suppe gekocht wird.

Der Kosmos, den Vicente Valero in seinem schmalen, aber eindrücklichen Buch beschreibt, ist der einer fernen Epoche, und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Valero wurde 1963 auf der Baleareninsel Ibiza geboren, wo er auch heute wieder lebt. In „Krankenbesuche“ erinnert er sich an seine Kindheit. Die unmittelbaren Erlebnisse des Kindes sind gespiegelt in den Reflexionen des erwachsenen Autors.

Was auf diese Weise entsteht, ist Sittenbild und Mentalitätsgeschichte zugleich. Erstaunlich ist, wie es Valero gelingt, in kurzen Prosastücken zugleich den historischen Hintergrund, die soziale Realität und die Endzeitstimmung der Franco-Zeit einzufangen. Die letzten Kapitel sind Erzählungen aus den Monaten unmittelbar nach dem Tod des Diktators im Jahr 1975.

Ibiza war in Vicente Valeros Kindheit nicht der Party-Hotspot von heute, sondern ein entlegener Flecken, auf dem manche Dörfer noch ohne Elektrizität und fließendes Wasser auskommen mussten. Ganz allmählich erst kommen die ersten Hippies auf der Suche nach Freiräumen auf Ibiza an, doch in erster Linie gehört die Insel den Einheimischen.

In den besten Kapiteln fängt Valero in Einzelschicksalen die großen geschichtlichen Kontexte ein und verbindet sie mit der individuellen Entwicklung seines kindlichen Protagonisten: Da ist beispielsweise das ältere Ehepaar, das mit Tochter und Enkelkindern nach Ibiza kommt. Zurückkommt, um es präzise zu sagen, denn der ältere Herr und seine Frau sind, so stellt es sich heraus, in den 1930er-Jahren ins französische Exil gegangen. Nun wollen sie ihre letzten Jahre an ihrem Geburtsort verbringen. Nachdem ihr Vater gestorben ist, geht die Tochter mit ihren Kindern zurück nach Frankreich und lässt ihre Mutter alleine zurück. Ihre Heimat ist anderswo.

Sehr viel bizarrer wiederum ist die Geschichte des jungen Aushilfslehrers, der für den erkrankten alten Lehrer einspringt und der erfüllt ist von den esoterischen Ideen und kosmischen Theorien der Hippie-Jahre. Dieser junge Mann stellt sich stellt sich als hochwohlgeborener Spross eines spanischen Adelsgeschlechts heraus, dessen Macht mit dem Verfall des Franco-Regimes ebenfalls zu bröckeln beginnt.

Über Politik oder gar über Politiker wurde, so rekapituliert Vicente Valero aus heutiger Sicht, in den Plauderrunden bei den Krankenbesuchen nicht gesprochen. Das Ende der Diktatur liegt atmosphärisch ebenso in der Luft wie die Erschließung der Insel als touristisches Ziel. Zugleich aber erscheint Ibiza in Valeros Buch als ein gefestigtes, in sich geschlossenes System, in dem die Menschen mit ihren Häusern und Lebensgewohnheiten fest verwachsen sind.

Veränderungen, und das gilt auch für den demokratischen Wandel, werden in einer Mischung aus Skepsis und Schicksalsergebenheit hingenommen. Doch niemand, so schreibt Valero, habe sich auf der Insel nach besseren Zeiten zurückgesehnt – aus dem einfachen Grund, weil es bessere Zeiten nie gab. Valeros Erinnerungsbruchstücke sind dementsprechend frei von wohliger Nostalgie, aber scharf und eindrucksvoll gezeichnet

Aus dem Spanischen von Peter Kultzen
Berenberg Verlag, 108 Seiten, 22 Euro
ISBN 978-3-949203-39-8

(Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.)

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Christoph Schröder