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Verónica Gerber Bicecci – Leere Menge

Stand
AUTOR/IN
Ulrich Rüdenauer

Verónica Gerber Bicecci reichen Worte nicht aus: In ihrem Roman "Leere Menge" arbeitet die mexikanische Künstlerin und Schriftstellerin nicht nur mit Sprache, sondern auch mit grafischen Mitteln - um damit einem Trauma auf die Spur zu kommen, das ihren Ursprung in der argentinischen Militärdiktatur hat.

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Der MaroVerlag erhält für dieses Buch den Preis der Hotlist 2023

Der mit 5000 Euro dotierte Preis der Hotlist geht 2023 an den MaroVerlag für den Roman „Leere Menge” von Verónica Gerber Bicecci, aus dem mexikanischen Spanisch übersetzt von Birgit Weilguny.

„Einstimmig verleiht die Jury den Preis der Hotlist 2023 dem Augsburger MaroVerlag für den in jeder Hinsicht überraschenden, innovativen und berührenden Roman Leere Menge. Mit dem ungewöhnlichen, viel zu sehr in Vergessenheit geratenen Thema des Romans, der flüssigen Übersetzung und der kreativen und eleganten Aufmachung, zu der auch die vielen Illustrationen beitragen, hat Leere Menge die Jury nicht nur überzeugt, sondern begeistert“, so die Jury in ihrer Begründung.

Was richtet das Exil in einem Menschen an? Werden die Gefühle von Einsamkeit und Verlassenheit an die Nachkommen vererbt? Wie lässt sich Verlust darstellen? Verónicas Mutter ist Ende der Siebziger wie viele ihrer Landsleute vor der argentinischen Militärdiktatur geflohen und nach Mexiko emigriert. Irgendwann in den neunziger Jahren aber verschwindet sie auch spurlos aus ihrem Exil.

Ihre Kinder, die junge Erzählerin Verónica und ihr Bruder, blieben damals alleine in der Wohnung, die sie fortan nur noch den „Bunker“ nannten. In der Wohnung verharrte seinerzeit alles „in der Schwebe“, die Zeit stand still. Nun, längst erwachsen, kehrt Verónica zurück in diesen Schutzraum. Wieder wurde sie verlassen, nun von ihrem Freund Tordo. Wieder steht sie vor dem Nichts.

So beginnt Verónica Gerber Biceccis autofiktionaler Roman „Leere Menge“, ein besonderes Buch, und das in mehrerlei Hinsicht. Besonders ist schon seine Form: Die 1981 in Mexiko geborene Bicecci, eine schreibende bildende Künstlerin, arbeitet nämlich mit verschiedenen Kunstgattungen, nutzt unterschiedliche Stilmittel.

Beim ersten Blättern in ihrem Buch fallen sofort die Grafiken auf, Zeichnungen von Kreisen und geometrischen Figuren, die in großer Zahl in den Text gestreut sind. Sie illustrieren die Beziehungen und Nicht-Beziehungen zwischen den Charakteren. Sie bilden Schnittmengen ab und zugleich die in den gezeichneten Ringen offenbar werdende Leere, die trotz aller versuchten Nähe bestehen bleibt.

Die Sprache allein – eine durchaus poetische, eigenwillige, teils mit dem Unverständlichen experimentierende Sprache – scheint nicht auszureichen, die Konstellationen und Verstörungen in Verónicas Leben zu erfassen.

Besonders an diesem Buch ist auch das konsequente Durchspielen einer Vorüberlegung. In ihrem Nachwort notiert Bicecci, sie habe einen Roman schreiben wollen, in dem die Sprache mit fortschreitender Handlung mehr und mehr verfalle: „immer kürzere Absätze, immer kompaktere Kapitel“, später der Einsatz von „unlesbaren Schriften, Dysgraphien, erfundenen Sprachen“.

Mehrere Dimensionen will dieses Buch abbilden, Mengenlehre und leere Menge zusammendenken. In Biceccis Nachwort hört sich das so an:

„Da kein wirklicher Unterschied zwischen den drei Koordinaten des Raums und der Zeit besteht, die zusammen ein Kontinuum bilden, und es auch kein einfaches Rezept gibt, um die Zeit zurückzudrehen oder die Sprache an ihre Grenzen zu bringen, wollte ich, mithilfe einer solchen imaginären, diskontinuierlichen Raum-Zeit-Struktur beim Lesen eine kognitive Dissonanz hervorrufen.“

Nun sollte man nicht immer ganz ernst nehmen, was Schriftstellerinnen und Schriftsteller über ihr eigenes Werk mitteilen. Und den Roman selbst muss man nicht so theoriebeflissen lesen, wie er geschrieben ist und im Nachwort von der Autorin erläutert wird. Aber doch ist dieser komplexe Versuchsaufbau, mit dem sich Bicecci den Themen Verlust und Unsagbarkeit, Fragilität und Geschichtslosigkeit nähert, auch eine Hürde.

Das Buch macht nämlich drittens besonders, dass es zusehends fragmentarischer wird. Die am Anfang noch nachvollziehbaren Handlungsstränge laufen ins Ungreifbare oder, um bei Bicecci zu bleiben, ins Leere. So interessant dieses polyphone oder mehrdimensionale Verfahren ist, so unzugänglich erscheint es zuweilen auch.

Biceccis Erzählung ordnet sich ihrer theoretischen Prämisse unter, das Sinnliche geht auf dem Weg verloren, und auch nach dem Sinn muss man zusehends suchen. Gewiss gehört das zum Konzept. Einmal heißt es, dass „Mamas Geschichte eher Sinn ergäbe, wenn wir einen Ort wie die Plaza de Mayo hätten“ – die Plaza de Mayo ist jener Platz in Buenos Aires, wo zahlreiche Mütter der von der Militärdiktatur Verschleppten seit 1977 gemeinsam und schweigend Aufklärung fordern.

Für Verónica, die Verlassene, ist das ganze Leben eine Plaza de Mayo – eine Suche nach Erklärungen für ihr Alleinsein, für ihre Verloren- und Verlassenheit. Denn es bleibt bis zum Ende des Romans unaufgeklärt, warum und wohin ihre Mutter gegangen ist.

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Ulrich Rüdenauer