Buchkritik

Tove Ditlevsen – Gesichter

Stand
AUTOR/IN
Kristine Harthauer

Wie in der gefeierten „Kopenhagen-Trilogie“ finden sich in Tove Ditlevsens Roman „Gesichter“ die Themen, die sie als Autorin und als Frau umgetrieben haben: Die Suche nach Anerkennung in einer Welt, die von der Meinung der Ehemänner, Kritiker und Kollegen dominiert wird. In Zeiten, in denen über psychisch Erkrankungen offener denn je gesprochen wird, hat der Roman mehr als 50 Jahre nach seinem Erscheinen nichts von seiner Aktualität eingebüßt.

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Nach dem Literaturpreis kommt die Schreibhemmung

Eigentlich müsste Lise Mundus zufrieden mit ihrem Leben sein: Sie ist eine berühmte Kinderbuchautorin, verheiratet mit einem Mann namens Gert, sie hat drei Kinder und lebt in finanziell sicheren Verhältnissen in Dänemark Ende der 1960er Jahre. Ihre Bücher werden „auf den Damenseiten der Zeitungen ordentlich besprochen“ und das Letzte wurde sogar ausgezeichnet; mit dem Kinderbuchpreis der dänischen Akademie. Aber:

Ihre Berühmtheit hatte brutal jenen Schleier weggerissen, der sie immer von der Wirklichkeit getrennt hatte. Sie hatte eine Dankesrede gehalten, die Gert für sie geschrieben hatte, und war währenddessen von der Angst ihrer Kindheit eingeholt worden, man könnte sie enttarnen und herausfinden, dass sie etwas zu sein vorgab, was sie nicht war. Diese Angst hatte sie seit jeher nicht verlassen. […] Nur wenn sie schrieb, drückte sie sich selbst aus, und ein anderes Talent besaß sie nicht.
(Tove Ditlevsen: Gesichter, S.9)

Das Problem ist allerdings, dass Lise Mundus seit der Preisverleihung keine einzige Zeile mehr zu Papier gebracht hat. Und nicht nur das: Ihr Alltag und ihre Wahrnehmung entgleiten ihr immer mehr.

Nachts nimmt sie Schlaftabletten und sortiert die Stimmen, die sie in den Wasserrohren rauschen hört. Tagsüber verlässt sie das Haus nicht, weil ihr die vielen Gesichter zu große Angst einjagen.

Was Lise Mundus erlebt und was sie fantasiert, lässt sich bald nicht mehr unterscheiden

Ihr Mann Gert ist ihr keine große Stütze. Er pflegt zahlreiche Affären, unter anderem mit ihrer Haushälterin Gitte und mit einer Frau namens Grete, die sich mit einer Überdosis Schlaftabletten umbringt. Lise ist sich sicher, dass sie die nächste sein wird, dass Gert und Gitte sie in den Selbstmord treiben werden.

Gert, Grete, Gitte, diese zum Verwechseln ähnlichen Namen verwirren beim Lesen. Und das passt zu Lises präzise geschildertem Wahnsinn. Für den findet Tove Ditlevsen eine Sprache, die, obwohl sie gleichzeitig schlicht und emotional direkt ist, die Wahrnehmung der Welt zunehmend grotesk überzeichnet.

Was Lise Mundus erlebt und was sie fantasiert, lässt sich bald nicht mehr unterscheiden. Und das, obwohl Tove Ditlevsen ihre Geschichte nicht aus einer Ich-Perspektive heraus erzählt. Sie entscheidet sich für eine personale Erzählerin, so schafft sie es, beides zu vereinen: Wir können an Lise Mundus’ genau beschriebener Gefühlswelt teilhaben, an dem permanenten Gefühl, der eigentlichen Welt entrückt zu sein. Sie ist nicht nur eine gequälte, einsame Frau, sie ist weiterhin in der Wirklichkeit verwurzelt. Die Erzählerin gibt uns das Gefühl, Lise durch diese Zeit stützend zu begleiten.

Lise Mundus weist sich selbst in die psychiatrische Klinik ein - nachdem sie Schlaftabletten genommen hat

Lise Mundus beschließt, ihren Mann und Gitte zu überlisten, indem sie die Schlaftabletten einnimmt, sich aber selbst rechtzeitig in die Klinik einweist. Ihr Plan gelingt, drei Wochen wird sie in der Psychiatrie bleiben. Dieser Aufenthalt macht den Großteil des Romans aus. Erst in der Klinik zeigt sich das ganze Ausmaß ihrer Psychose.

Lise starrte das Glas an und spürte, wie der Durst an ihren Eingeweiden riss. Am Boden setzte sich etwas Dunkles ab, und plötzlich wusste sie, dass Gift drin war. […] „Ich bin nicht durstig“, sagte sie und schaffte es kaum, ihre trockenen Lippen voneinander zu lösen. „So leicht werdet ihr mich nicht los, Gitte.“ Wütend blickte sie in das selige, selbstzufriedene Gesicht, das aussah, als wäre es mit unsichtbaren Nadeln an der Haube befestigt.
(Tove Ditlevsen: Gesichter, S. 71)

Die Pflegerinnen und Pflegern sehen aus wie Gitte und Gert. Findet Lise. Sie fühlt sich von ihnen beobachtet, sie hört ihre Stimmen in ihrem Kopfkissen und in den Wasserrohren. Die beiden quälen sie, reden ihr ein, sie sei durchgeknallt, eine abstoßende Verrückte, über die die Jugend lacht, weil ihre Literatur unmodern sei.

Auch die anderen Patientinnen erkennen die berühmte Schriftstellerin. Sie flüstern, Lises Bücher bestünden aus geklauten Sätzen, schon als Schulkind sei sie schrecklich dumm gewesen.

Es gibt deutliche Parallelen zu Tove Ditlevsens Leben

An Stellen wie diesen werden die Parallelen zu Tove Ditlevsens Leben deutlich: Von ihren Ehekrisen, ihrer Medikamentenabhängigkeit und ihren psychotischen Schüben erzählt sie ganz offen in ihrer Kopenhagen-Trilogie, die in den letzten Jahren wiederentdeckt und auch ins Deutsche übersetzt wurde.

Darin schreibt sie, wie sie sich schon als Kind hinter einer Maske aus Dummheit versteckt habe, um in Ruhe gelassen zu werden. Sie erzählt, wie ihre Mutter ihr geraten habe, als Autorin ihren Mädchennamen „Mundus“ anzunehmen, weil das besser klänge als Ditlevsen. Den gleichen Namen, den Lise in „Gesichter“ trägt.

Der Roman entstand 1968, also etwa zur gleichen Zeit wie Ditlevsens autobiographische Trilogie. Lise Mundus nennt es „beruhigend, von jener Welt übersehen worden zu sein, die sich mit der Erwachsenenliteratur beschäftigte.“ Und dennoch quält sie ihre innere Stimme mit Selbstzweifeln, als Autorin nicht gut genug zu sein.

Die Medikamente, die Tove Ditlevsen erst Freiheit versprachen, trieben sie viel zu früh in den Tod

Heute ist ihr literarisches Werk in Dänemark zwar Schullektüre, fehlt aber nach wie vor im Literaturkanon des dortigen Unterrichtsministeriums. Und auch eine literarische Auszeichnung der dänischen Akademie hat sie, im Gegensatz zu ihrem Alter-Ego Lise Mundus, nie erhalten.

„Gesichter“ ist Tove Ditlevsens elegant-offensive Antwort an ihre Kritiker von damals. Sie entblößt darin nicht nur ihr Innerstes, sie geht einen Schritt weiter und macht es zu atmosphärisch dichter und bewegender Literatur.

Wie zeitlos modern das ist, zeigt sich, wenn man diesen Roman mehr als 50 Jahre nach seinem Erscheinen liest: In Zeiten, in denen gesellschaftlich immer offener über psychische Gesundheit, Depression und Sucht gesprochen wird. Und über den Raum, den Frauen heute in der Welt einnehmen möchten.

Tove Ditlevsen musste dafür noch einen hohen Preis zahlen. Die Medikamente, die ihr erst Freiheit versprachen, trieben sie viel zu früh in den Tod. Lise Mundus hingegen weiß, dass es immer ein Morgen geben wird, solange sie schreiben kann.

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Rausch, Kunst und Schreiben war über Jahrhunderte ein und dasselbe. Schließlich ging es darum, in andere Sphären vorzudringen, jenseits der schnöden Wirklichkeit. Im 20. Jahrhundert gibt es dann auch viele Schriftstellerinnen, die trinken oder insgeheim Medikamente schlucken. Oft sind es sogar die erfolgreichsten und eigenständigsten.

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