Thomas Hettche erzählt in seinem siebten Roman „Herzfaden“ die Geschichte der Augsburger Puppenkiste und ihrer Gründer als eine Art Märchen für Groß und Klein.
Generationen westdeutscher Kinder sind seit Beginn der Sechzigerjahre mit den Fernsehabenteuern der Augsburger Puppenkiste aufgewachsen. Die Ursprünge der Marionettenbühne liegen aber mitten im Krieg.
Es war einmal ...
Es war einmal ein Mädchen, dessen Vater musste in den Krieg. Unterwegs fand er ein Puppentheater, und um seiner Tochter eine Freude zu machen, brachte er die Marionettenbühne mit zurück nach Hause.
Als der Krieg aus war, wurden er und das Mädchen mit ihren Marionetten berühmt im ganzen Land, und bis heute erinnern sich alle, die sie gesehen haben, an das, was die Puppen und die Puppenspieler ihnen erzählt haben.
Im Mittelpunkt steht Schauspieler Walter Oehmichen mit seiner Tochter Hatü
Es war einmal... So fangen Märchen an. Und als eine Art Märchen erzählt Thomas Hettche in seinem Roman „Herzfaden“ die Geschichte der Augsburger Puppenkiste und ihrer Gründer, des Schauspielers Walter Oehmichen und seiner Tochter Hannelore, genannt Hatü.
Hettches Märchen freilich lässt, wie alle guten Märchen, die Zeitläufte nicht vergessen. Im Gegenteil macht es seinen Lesern die Schrecken wie die Hoffnungen seiner Zeit gegenwärtig.
„Man sieht nur mit dem Herzen gut.“
Aber es tut dies eben nicht oder nicht allein, indem es ihre Köpfe erreicht, sondern ihre Herzen. Denn, wie bei Saint-Exupéry der Fuchs zum kleinen Prinzen sagt: „Man sieht nur mit dem Herzen gut.“
Die Bühnenbearbeitung der Erzählung „Der kleine Prinz“ markiert einen Schlüsselmoment in Thomas Hettches Roman.
„Der kleine Prinz“ feierte im Februar 1951 Premiere an der Augsburger Puppenkiste, drei Jahre nach deren Gründung. In diesem Stück drückten die damals 20-jährige Hatü Oehmichen und die anderen jungen Marionettenspieler ihr Lebensgefühl aus.
Aufbruch und der Wunsch nach Neuem motivieren die Marionettenspieler
Nach dem Ende der nationalsozialistischen Erziehungsdiktatur, mit dem Wissen um die Verbrechen, die im deutschen Namen verübt worden waren, und inmitten der Trümmer, sehnten sie sich nach Aufbruch, nach dem Neuen im Denken, im Leben und in der Kunst.
Dementsprechend wagten sie ein formales Experiment: Walter Oehmichen selbst trat an der Seite der Puppen auf.
Seine Rolle war die des Erzählers, des notgelandeten Fliegers. Bei Hettche ist dies ein Augenblick der Verständigung zwischen den Kriegsteilnehmern und denen, die man bald die „skeptische Generation“ nennen sollte.
Wie Endes „Unendliche Geschichte“ ist der Roman in zwei Farben gedruckt
Thomas Hettches Roman ist aber nicht nur eine Verbeugung vor Antoine de Saint-Exupéry, sondern auch vor einem anderen Schriftstellerkollegen, nämlich Michael Ende, der vor 25 Jahren, am 28. August 1995 starb.
Beim ersten Blättern in „Herzfaden“ fällt ins Auge, dass das Buch, wie Endes „Unendliche Geschichte“, in zwei Farben gedruckt ist – was ebenfalls zwei Handlungssträngen und Zeitebenen entspricht.
In Präsens und Imperfekt gibt es zwei verschiedene Protagonistinnen
Das eine sind Hatüs Erinnerungen an Augsburg während der Nazizeit und die frühen Jahre der Puppenkiste, die im Präsens erzählt werden. Im Wechsel damit geht es, im Märchenton des Imperfekts, um ein zwölfjähriges Mädchen der Gegenwart.
Durch eine verborgene Tür im Augsburger Theaterfoyer gelangt es auf den Dachboden. Dort sind alle Marionetten lebendig, und ebenso die – im echten Leben 2003 verstorbene – Hatü.
Das Mädchen wird unterstützt von drei bekannten Figuren aus der Augsburger Puppenkiste
Sie schickt das Mädchen los, um im Dunkel des Dachbodens eine ziemlich dämonische Kasperle-Figur aufzutreiben, die erste Puppe, die Hatü als Kind geschnitzt hat.
Zum Glück muss das Mädchen diese gefährliche Herausforderung nicht allein bewältigen. Ihm zu Seite stehen drei der beliebtesten Figuren der Puppenkiste, nämlich Jim Knopf, das Urmel und der kleine König Kalle Wirsch.
Die dritte Generation, die Erwähnung findet, sind die Babyboomer
Damit kommt – nach den Kriegsteilnehmern und ihren Kindern – die dritte Generation ins Spiel, zu der auch der 1964 geborene Thomas Hettche gehört.
Es sind die westdeutschen Babyboomer, aufgewachsen mit den Fernsehabenteuern der Augsburger Puppenkiste, die von 1961 an für viele Jahrzehnte zum Inventar der Bundesrepublik gehörten. Und der nächsten Generation, nämlich der seiner Tochter, hat Hettche das Buch gewidmet.
Hettche folgt dem Vorbild von Michael Ende
Thomas Hettche ist ein ebenso geschichts- wie gegenwartsbewusster Autor und hat sich immer wieder, vor allem in seinem Roman „Woraus wir gemacht sind“ von 2004, mit kollektiven Prägungen beschäftigt.
Die Versuchung, allein auf die sentimentale Wirkmächtigkeit solcher Prägungen zu setzen, muss gerade bei der Arbeit an „Herzfaden“ groß gewesen sein. Hettche widersteht dieser Versuchung weniger, als dass er souverän mit ihr umgeht.
Hierin folgt er durchaus dem Vorbild von Michael Ende, der dem Vorwurf des Eskapismus zum Trotz seine fantastischen Bücher für Kinder schrieb und damit eben auch erwachsene Leser fesselte.
„Herzfaden“ ist ein Zeitroman für Groß und Klein
Dass „Herzfaden“ genau solch ein Buch sein will, thematisiert es selbst, als nämlich Hatü ihrem Vater von dem Plan erzählt, Endes „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ mit ihren Marionetten zu verfilmen:
Als Zeitroman für Groß und Klein geht „Herzfaden“ ein großes Risiko ein, weil er - anders als Michael Endes ja eher allgemein zivilisationskritische Bücher - die Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts direkt ansteuert.
Die Stimmungslage der Kriegs- und Nachkriegsjahre wird genauso lebendig wie die Marionetten
Die Ermordung der Juden, die Schrecken des Bombenkrieges und das andauernde Trauma der Kriegskinder bringen den absichtsvoll eingesetzten All-Age-Tonfall hier und da an seine Grenzen.
Meist jedoch überzeugen die anschaulichen Szenen, in denen Hettche die Stimmungslagen der Kriegs- und Nachkriegsjahre lebendig werden lässt. So lebendig, wie die Marionetten der Augsburger Puppenkiste geblieben sind: auf dem Dachboden und im Gedächtnis von Generationen.