SWR2 lesenswert Kritik | Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2023

Sylvie Schenk – Maman

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AUTOR/IN
Jörg Magenau

Wie schreibt man über eine Frau, die selbst nicht sprechen wollte? Wie nähert man sich einer Mutter, deren Geschichte im Dunkeln liegt? Die deutsch-französische Autorin Sylvie Schenk begibt sich in "Maman" auf die Suche nach ihrer Herkunft und nach den eigenen Wurzeln.

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Die Mutter ist immer schon da. Mit ihr fängt alles an. Sie steht für das Rätsel des Lebens und das Geheimnis der eigenen Herkunft. Über die Mutter zu schreiben, heißt, diesen Fragen nachzugehen. Das macht die enorme Popularität und Verbreitung dieses Genres aus: Mutterbücher sind immer auch autobiographisch; es ist unmöglich, über die Mutter zu schreiben, ohne dabei sich selbst ins Spiel zu bringen.

„Unsere Mutter, die sprach nur mit der Wäsche und mit Babys.“ So habe ich es gerade zu meiner Schwester Pauline am Telefon gesagt. Mit welcher Stimme habe ich da gesprochen? Mit meiner Alltagsstimme oder mit einer Kleinmädchenstimme? Oder mit einer Stimme, die mir schon nicht mehr gehörte?"

So beginnt die deutsch-französische Autorin Sylvie Schenk ihre Mutter-Erkundung, der sie den schlichten Titel „Maman“ gegeben hat. Erstaunlich genug, dass eine Schriftstellerin eine Mutter hatte, die mit ihren Kindern nicht sprach, sondern nur vor sich hinmurmelte, wenn sie vor dem Wäscheschrank kniete.

Sie war die uneheliche Tochter einer Textilarbeiterin aus Lyon, die bei der Geburt starb. Die Datenlage ist dünn, die Auskünfte blieben spärlich. Also macht sich Sylvie Schenk daran, dieser Unbekannten ein mögliches Leben zu entwerfen.

Die Tochter ist als Erzählerin immer dabei. Sie gibt der Sprachlosen eine Stimme, betritt die Räume der Vergangenheit, als wäre sie dabei gewesen und sitzt wie ein Geist auf den Schultern ihrer Figuren. So wird aus der Recherche ein Roman, aus Aktennotizen eine lebendige Wirklichkeit und aus der Familiengeschichte ein Selbstporträt.

„Ich bin da, bin dazwischen, als Künstlerin zwischen den Fronten, als Schreibende. Worte sind flüssiges Leben, sie sickern in die Spalten des Alltags."

Sylvie Schenks Mutter wurde zunächst von einer Bauernfamilie aufgenommen und blieb dort die ersten fünf Jahre ihres Lebens. Den Bauern ging es weniger um das kleine Mädchen, als um die staatliche Unterstützung. Das Kind blieb allein und sprachlos, traumatisiert von Kühen, Hunden und Einsamkeit.

Erst spät kam sie in andere Verhältnisse, wurde von einem kinderlosen Paar adoptiert, einem Apotheker, der das Vermögen im Casino verspielte und eher unsichtbar blieb, und einer Frau, die damit endlich ihrer Kinderlosigkeit entkam. Doch trotz aller Zuwendung, die das Mädchen hier erfuhr, blieb sie sprachlich zurück und in der Schule eine Außenseiterin.

„Sie ist satt, gut gepflegt, von ihrer Adoptivmutter geliebt. Sie ist einsam, kann nicht klagen. Sie kann nur Dinge benennen, die sie sieht, für die Leere findet sie keinen Ausdruck."

Was für eine Mutter wird schließlich aus so einem Kind? Sylvie Schenk setzt diesem Bild einer bedauernswerten Frau ihre eigenen Kindheitserinnerungen entgegen. Da ist die Mutter unnahbar und ähnlich gefühlskalt, wie sie das als Kind erfahren hat. Doch Schenk sucht nach dem Positiven, will ihrer Mutter nicht nur negative Eigenschaften anhängen.

Der „Wildwuchs“, in dem sie und ihre Geschwister belassen wurden, ist immerhin auch als Gewinn zu verbuchen, als geschenkter Freiheitsraum und als Verpflichtung, sich von klein an selbst zu entwerfen. Im Unterschied zur Mutter wuchs sie mit ihren Geschwistern in gesicherten Verhältnissen auf, auch wenn die Ehe der Eltern eher ein pragmatisches Nebeneinander als eine Liebesbeziehung war.

Zur Liebe war diese Mutter nach allem, was sie erlebt hatte, nicht fähig, wohl aber zur Verlässlichkeit. Ihre wichtigsten Maximen lauteten: Immer pünktlich zum Essen kommen. Und: Nicht unehelich schwanger werden.

Dagegen jedoch verstießen Sylvie Schenks Schwestern geradezu programmatisch. Das Erbe der „Maman“ und ihrer dubiosen, vaterlosen Herkunft beantworten die Kinder, indem sie gegen deren Maxime verstoßen. Sie wiederholen, was ihnen aus der Familiengeschichte heraus als Ungelöstes aufgegeben worden ist.

Doch sie wiederholen es, indem sie es verwandeln. Das ist der Zielpunkt dieses einfühlsamen Buches, das an Tiefes rührt. Je mehr sich die Gestalt der Mutter entzieht und im Ungefähren auflöst, umso deutlicher entsteht sie als Romanfigur.

Aus dem Schweigen, das aus ihrem Leid resultierte, ging eine Schriftstellerin hervor, für die Ausdrucksfähigkeit zum Beruf geworden ist und die das Leben der Mutter in Literatur zu verwandeln vermag. „Maman“ ist nicht einfach nur ein Buch über eine Mutter, sondern ein Buch über das Leben selbst.

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Jörg Magenau