Buch der Woche

Ocean Vuong - Nachthimmel mit Austrittswunden

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AUTOR/IN
Frank Hertweck

Die Gedichte von Ocean Vuong – jetzt gibt es sie endlich auch auf Deutsch. Nach dem Erfolgsroman „Auf Erden sind wir kurz grandios“ ist nun die Lyrik des 31-Jährigen zu entdecken.

Geboren in Vietnam, kam Vuong als Kind in die USA. Seine Texte erzählen von Herkunft, Vatergewalt und Homosexualität. Poesie von überwältigender Verführungskraft.

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Nach seinem Debütroman folgt nun ein Gedichtband

Er ist eine der wichtigsten Stimmen der jungen amerikanischen Literatur. Sein Weg dorthin ist ungewöhnlich und überraschend: Ocean Vuong.

1988 wurde er in Saigon geboren, mit zwei Jahren kam er in die USA und wuchs unter schwierigen Verhältnissen auf, betreut von seiner Großmutter und seiner Mutter.

Autor Ocean Vuong (Foto: Pressestelle, Hanser Verlag / Tom Hines)
Autor Ocean Vuong

Im letzten Jahr erschien in Deutschland sein erster Roman. Jetzt veröffentlicht der Hanser Verlag den Gedichtband auf Deutsch, der Ocean Vuong 2016 in den USA bekannt gemacht hat: Nachthimmel mit Austrittswunden.

„Auf Erden sind wir kurz grandios“ scheut inhaltlich vor nichts zurück

Ocean Vuong ist ein Phänomen. Sein erster Roman erschien letztes Jahr und trägt den schillernden Titel „Auf Erden sind wir kurz grandios“.

Ein Roman, der alle Bestandteile für ein Nischenbuch hat, aber trotzdem in den USA und Deutschland ein riesiger Erfolg wurde. 

Er schildert Ocean Vuongs erste homosexuellen Erfahrungen und scheut sich nicht vor der Darstellung drastischer Gewalt, nicht beim schwulen Sex, nicht bei den Auseinandersetzungen innerhalb der Familie, die Vuong aber nie effekthascherisch schildert: Er nimmt sie ernst als Teil seiner Identität.

Die Frage nach der Identität dominiert den Gedichtband

Aber welcher Identität? Ocean Vuong ist Flüchtling, vietnamesischer Amerikaner, homosexuell, kommt aus schwierigen Verhältnissen.

Sein Leben erscheint wie die Widerlegung des amerikanischen Traums, wie eine Blaupause für Identitätspolitik. Aber es ist genau diese universelle Frage, die den globalen Erfolg des Romans erklärt. Wer bin ich?

Die Gedichte sind Mutter und Vater gleichermaßen gewidmet

Und diese Frage dominiert auch den Gedichtband, den Ocean Vuong schon 2016 veröffentlicht hat. Und wieder geht es um Identität.

Ist der Roman „Auf Erden sind wir kurz grandios“ Vuongs Mutter gewidmet, so die Gedichte beiden Elternteilen. Der Vater steht allerdings in Klammern.

Sind im Roman Mutter und Großmutter das erzählerische Zentrum und der Vater bloß prügelndes, gewalttätiges Beiwerk, so wird in den Gedichten von Beginn an die Frage nach dem Vater gestellt. Ocean Vuong lässt Telemach sprechen, den Sohn des Odysseus.

Alle zentralen Themen in einem Gedicht

Schon in diesem Gedicht des Bandes sind alle wichtigen Themen von Ocean Vuongs Lyrik versammelt.

Der Vater, der in jeder Hinsicht ein Verlorener ist. Der Sohn, der sich von ihm löst, aber damit einen Teil seiner Herkunft verliert. Das Meer, der Ort der Unbehaustheit, aber auch der Freiheit.

Die Aufmerksamkeit für präzise Farbe, die einem ganz konkreten alltagsrassistischen Hintergrund entspringen. Als 'Gelben' hat man den kleinen Ocean beschimpft.

Vuong schreibt eine queere Poesie

Die griechische Mythologie, ein Versuch, sich eine neue, andere Tradition zu erschreiben. Die Gewalt:  Die Brutalität im Leben der Abgehängten.

Der Krieg, also der Vietnamkrieg, der über Generationen das Leben der Betroffenen und Nachgeborenen verseucht. Die Homosexualität, als die Freiheit jenseits des Vaters.

Ocean Vuong ist queer. Wenn man darunter mehr versteht als Abweichung, also Negation von Normalität, nämlich den Entwurf einer anderen Identität, Verwandlung, Metamorphose, dann ist auch seine Poesie im radikalen Sinne queer.

Worte öffnen Übergänge in andere Wirklichkeiten

Er schreibt Langgedichte, in offenen Formen, nicht wirklich erzählerisch, weil ihm seine Inspirationen und Assoziationen immer wieder dazwischenkommen und die narrativen Abläufe stören. 

Er benutzt Worte wie Scharniere, wie Schwellen, die Übergänge in andere Wirklichkeiten ermöglichen. Seine Legasthenie macht ihn sensibel für diese sprachliche Durchlässigkeit.

Durch Wortmuster entsteht die formale Einheit

In diesen fließenden Überschreitungen steckt die überwältigende Verführungskraft seiner Poesie. Ocean Vuong schreibt in freien Versen.

Ihr Bindeglied sind nicht Reime, sondern Wortketten, die durch Wiederholungen entstehen.

Vuongs Lehrmeister klingen in den Versen nach

Seine Lehrmeister die großen Ahnherren der amerikanischen Lyrik, seine neuen Väter:  Man hört Walt Whitman, der besessen vom Meer und dem Krieg war und sich Matrosen als erste Leser wünschte.

Man hört Ezra Pound und dessen Spiel mit Vielsprachigkeit und entlegenen literarischen Formen. Auch er ein Seefahrerapostel. Man hört Allen Ginsberg und seine Trauer um seine verlorene Generation.

Man hört und sieht Charles Olson mit seinen filigran übers Blatt verteilten alltagssprachlichen Versen, den graphischen Manierismen.

Die Befreiung vom Vater ist essentiell für Vuong

Aber zusammengehalten wird diese Vielfalt durch das eine für Ocean Vuong existentielle Thema: die Befreiung von seinem Vater, den er paradoxerweise nie hatte, weil der die Familie nach kurzer Zeit verlassen hat.

Erst darum konnte er nach diesem Lyrikband den Roman über seine Mutter schreiben.

Roman und Gedichtband profitieren voneinander

Es ist ein Glücksfall, beide Bücher so kurz nacheinander lesen zu können. Denn viele Andeutungen in den Gedichten erschließen sich leichter, wenn man den sehr autobiographisch gehaltenen Roman im Hinterkopf hat.

Trotzdem stehen die Verse ganz für sich. Es geht nicht um biographisches Schreiben, sondern um den Entwurf einer Biographie mit den Mitteln der Poesie.

Die Identität ist offen. Der Lyrikband selbst die Suche. Sie ist noch nicht an ihr Ende gekommen, denn das vorletzte Gedicht heißt „Eines Tages werde ich Ocean Vuong lieben“ und schließt mit einem Appell:

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Frank Hertweck