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Soraya Chemaly - Speak out! Die Kraft weiblicher Wut

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AUTOR/IN
Julia Haungs

Wut ist das Gefühl der Stunde, und das nicht erst, seit die #Blacklivesmatter-Bewegung ihren Zorn über den Rassismus in den USA laut herausschreit. Es gibt seit Jahren den Wutbürger, die Figur des zornigen, alten Mannes - und es gibt, von der Öffentlichkeit weit weniger beachtet, sehr viele wütende Frauen.

Denn sie sind - auch im Jahr 2020 - noch immer vielen großen und kleinen Ungerechtigkeiten ausgesetzt: egal ob es um den Gender Pay Gap oder ums Spülmaschine-Ausräumen und andere Dinge des „Mental Load“ geht.

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Die US-amerikanische Journalistin und Aktivistin Soraya Chemaly beschäftigt sich in ihrem Buch „Speak Out!“ mit der weiblichen Wut und stellt fest: Diese ist nicht nicht an Alter, Hautfarbe oder Herkunft gebunden.

Es ist ein Gefühl, das Frauen weltweit verbindet und das sich seit der #Metoo-Bewegung immer lauter Gehör verschafft.

Autorin Soraya Chemaly (Foto: Pressestelle, Karen Sayre)
Autorin Soraya Chemaly

Schon in der Kindheit sollen Frauen ihre Wut unterdrücken

Männer sind wütend. Frauen sind traurig. Das ist der Grundsatz, der vielen Mädchen von klein auf beigebracht wird. Und damit beginnt für sie eine fatale Verkettung von Selbstzensur, unterdrückter Wut und Ohnmachtsgefühlen.

Denn wer traurig ist, macht sich klein und findet sich mit der eigenen Zurücksetzung ab statt daran etwas zu ändern, schreibt die amerikanische Publizistin Soraya Chemaly in ihrem Buch „Speak Out!“ 

Wir lernen meist schon von Kindesbeinen an, Wut als unweiblich, unattraktiv und egoistisch zu betrachten. … Als Mädchen wird uns nicht beigebracht, wie wir unserer Wut einen Raum geben oder wie wir mit ihr umgehen sollen. Wir lernen vielmehr von klein auf, sie zu fürchten, zu ignorieren, zu verbergen und in andere Gefühle umzuwandeln.

Chemaly zeigt die Folgen des weiblichen Verstummens auf

Die Folge: Frauen verstummen, machen sich unsichtbar, stellen ihre Bedürfnisse hintenan. Soraya Chemaly beschreibt eindrücklich, welche Folgen das für die Einzelne und in der Konsequenz für die ganze Gesellschaft hat.

Für ihre Studie zu Sexismus und Misogynie hat sie feministische Forschung aus mehreren Jahrzehnten ausgewertet und mit anderen Forschungsbereichen, Zeugnissen der Populärkultur und persönlichen Erlebnisberichten von Frauen aus aller Welt verknüpft.

Frauen haben allen Grund wütend zu sein

Das Material ist so umfassend, dass einem beim Lesen fast schwindelig wird. „Speak Out!“ zeichnet die Stationen der weiblichen Sozialisation nach - von frühen familiären und schulischen Prägungen über die Paarbeziehung und Mutterrolle bis zum Berufsleben - und untersucht, wie weibliches Verhalten in allen Bereichen normiert wird.

Der Fokus des Buchs öffnet sich dabei vom Privaten bis zur öffentlich-gesellschaftlichen Stellung der Frau. Das traurige Fazit: Frauen haben allen Grund wütend zu sein, denn sie sind nach wie vor überproportional häufig Opfer von verbaler, körperlicher und sexueller Gewalt.

Die meisten Menschen sind es gewohnt, Jungen und Männer als besonders risikoaffin anzusehen, aber das liegt nur daran, dass wir uns nicht ernsthaft mit den Risiken befassen, denen Frauen sich im Zusammenleben mit Männern aussetzen müssen.

Die Thesen werden von umfangreichen Studien und Datenmaterial gestützt

Auch Frauen, die nicht um ihre körperliche Unversehrtheit fürchten müssen, erleben jeden Tag, dass sie eben nicht gleichberechtigt sind. Unter anderem verrichten sie mehr unbezahlte Care-Arbeit, verdienen weniger und gelangen seltener in Führungspositionen.

Ihre Thesen unterfüttert die Autorin überzeugend mit umfangreichem Datenmaterial, das zeigt: die Wahrnehmung vieler Männer, sie würden doch längst marginalisiert, während Frauen den Meinungsdiskurs dominierten, ist nicht zu halten.

Ein Blick ins Internet genügt, um den destruktiven Hass gegenüber Frauen zu entlarven

Kurios ist hierzu das Ergebnis einer Studie:

Wir bemerken es nicht einmal mehr, wenn bestimmte Gruppen und ihre Sichtweisen fehlen. Zum Beispiel reichen 17 Prozent Frauen in einer Massenszene aus, damit Betrachter das Gefühl haben, es wären gleich viele Männer und Frauen zu sehen. Im auditiven Bereich gibt es eine Parallele zu diesem visuellen Phänomen: Wenn bei einem geschlechtergemischten Gespräch Frauen 30 Prozent der Redezeit einnehmen, haben Zuhörer bereits das Gefühl, sie redeten mehr als Männer.

Um zu erfahren, wie viel Hass Frauen entgegenschlägt, die klar ihre Meinung äußern, muss man nur einmal in die Kommentarspalten im Internet schauen. Dieser destruktiven Wut setzt Chemaly die positive Kraft des Gefühls entgegen.

Sexismus und Rassismus sind Teil des gleichen Problems

Mit Blick auf Bewegungen wie #Blacklivesmatter oder #Metoo glaubt die Aktivistin fest an das Potential der Wut, progressive Gesellschaftsveränderungen herbeizuführen.

Immer wieder verknüpft das Buch Sexismus und Rassismus zu zwei Aspekten des gleichen Problems: eine weiße, patriarchalische Herrschaftsklasse, die die eigenen Privilegien mit allen Mitteln verteidigt, indem sie andere Gruppen unterdrückt, seien es Frauen oder Menschen anderer Hautfarbe. Diese Intersektionalität ist Chemaly wichtig.

Immer wieder habe ich zu hören bekommen, im Kontext von Frauenrechten auf Rassismus hinzuweisen, würde die Bewegung „spalten“. Aber Sexismus wird immer auch über andere Faktoren vermittelt - race, sozialer Status oder Gender-Identität zum Beispiel. Wer es für kontraproduktiv hält, Rassismus ins Spiel zu bringen, wenn es um Geschlechterdiskriminierung geht, ist sich nur der eigenen Privilegien nicht bewusst und nicht bereit, Unbehagen auszuhalten.

Ein feministisches Manifest, das Augen öffnet

Eine Schwester im Geiste hat Chemaly in der deutschen Rapperin und Linguistin Reyhan Şahin alias Lady Bitch Ray gefunden. Auch sie hebt in ihrem aktuellen Buch „Yalla, Feminismus“ die Gleichzeitigkeit verschiedener Diskriminierungsformen hervor, die viele feministische Diskurse ausblenden.

Anders als Sahin argumentiert Chemaly allerdings in einem durchgängig sachlichen Ton, ohne ausfällig zu werden. Die Wut, wie Chemaly sie versteht, macht nicht blind. Im Gegenteil: dieses feministische Manifest dürfte vielen Lesern und Leserinnen die Augen öffnen.

„Speak Out“ ist ein Aufruf, die Stimme zu erheben

Nachdem sich beim Lesen einiges an Wut über die Ungerechtigkeit der Verhältnisse aufbaut, gibt die Autorin im letzten Kapitel Handlungsempfehlungen, wie Frauen sich aus der anerzogenen Wutlosigkeit befreien und die Kraft dieser starken Emotion produktiv nutzen können.

Beispielsweise, indem frau ein klareres Bewusstsein für die eigene Wut entwickelt, lernt, sie wirksam zu artikulieren und den Mut hat, nein zu sagen, wenn sie sich von Partner, Familie oder Arbeitgeber ausgenutzt fühlt.

„Speak Out“ ruft Frauen dazu auf, die Stimme zu erheben. Und zwar laut und deutlich.

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